Die Tochter der Ketzerin
anderen zum Bach. Vermutlich mussten die Tiere damals großen Durst leiden, denn wir trieben sie stets zur Eile an und scheuchten sie rasch zurück zur Scheune, um unsere vor Kälte starren Hände und Füße aufwärmen zu können. Margarets Familie besaß mehr Vieh als meine. Ihre Scheune war zwar nicht groß, aber solide gebaut, und zwar mit der Unterstützung des ältesten Sohns Allen. Allen hatte noch keine eigene Farm, sondern lebte und arbeitete bei seinem Freund Timothy Swan nördlich von Andover. Zur Aussaat und zur Ernte kam er oft, um auf den Feldern seines Vaters zu helfen und sich seinen Anteil am Ertrag zu holen. Wenn der Onkel einmal nicht mehr lebte, würde Allen die Farm erben. In der Scheune gab es eine Milchkuh, zwei Ochsen, eine gewaltige Sau, die bald Ferkel werfen würde, drei Hühner und einen Hahn. Außerdem hatte der Onkel einen großen rotbraunen Wallach, der nur zum Reiten da war, denn er fand, dass man so ein edles Pferd nicht vor einen Wagen spannen könne. Zu Andrews Aufgaben gehörte es, den Sattel seines Vaters sauber und gut gefettet zu halten. Einmal zeigte er mir eine Stelle unterhalb des Sattelknaufes, in die jemand mit einem scharfen Messer sechs Kerben eingeritzt hatte, und raunte mir zu, jede Kerbe stünde für einen Indianer, der durch die Hand seines Vaters sein Leben gelassen habe. Dann fuhr er mit den Fingern über die kleinen Ritzen im Leder. »Eines Tages gehört dieser Sattel mir, und am Sattelknauf wird ein Dutzend Kerben sein, noch bevor ich zwanzig bin«, prahlte er. Ich sah ihn zweifelnd an und fragte mich, wie er wohl ein so gewaltiges Blutbad bewerkstelligen wollte, denn schließlich war er weder sonderlich stark noch übermäßig mutig. Vielleicht würde er ja so vorgehen wie bei Hannah und mir, indem er die Gegner einfach von hinten überfiel.
Wenn der Onkel in die Scheune ging, brachte er seinem geliebten Pferd stets eine Leckerei wie ein Stück Dörrapfel oder ein paar Maiskörner mit. Der Wallach hieß Bucephalus und war nach dem liebsten Streitross des griechischen Königs Alexander benannt. Bucephalus war das Pferd der Apokalypse gewesen, denn ihm auf den Fersen folgten stets Alexanders brandschatzende Truppen. Der Name bedeutete »Ochsenkopf«, was mich oft zum Lachen brachte, denn der Kopf des Pferdes war sehr klein und schmal. Dann drohte der Onkel mir mit dem Finger. »Es besteht ein Unterschied zwischen einem Wort und seinem Geist«, pflegte er zu sagen. »Bucephalus trägt diesen Namen, weil ich in ihm den Geist der Tapferkeit erkenne. Ich schaue mit offenen Augen in die Welt, Sarah, und gebe den Dingen Namen, die ausdrücken, wie sie eigentlich sein sollten. Was meine Mitmenschen in ihrer Beschränktheit davon halten, kümmert mich nicht.«
»Soll ich dich dann Alexander nennen, Onkel?«, fragte ich mit einem spitzbübischen Grinsen. Er lachte zwar, aber ich merkte ihm an, dass er sich geschmeichelt fühlte. Allerdings wusste ich damals noch nicht, dass Alexander von seinen Truppen vergiftet worden war.
Ich hielt es für ein Zeichen von Onkels Wertschätzung, dass er mir die Aufgabe übertrug, täglich das dichte Winterfell des Pferdes zu striegeln. Während ich mit den Händen über den geschwungenen Hals und die bebenden Flanken des Wallachs fuhr, wunderte ich mich, dass man so viel Mühe auf ein Tier verwendete, dessen einzige Leistung darin bestand, seinen Herrn von der Farm in die Stadt zu tragen.
»Bucephalus, Bucephalus«, flüsterte ich ihm ins Ohr. »Du würdest mir nie etwas tun.« Obwohl seine großen rollenden Augen sanft dreinblickten, achtete ich darauf, dass meine Finger nicht mit seinen tastenden Lippen und meine Füße nicht mit seinen unruhigen Hufen in Berührung kamen. Denn ganz gleich, wie man ein Pferd auch nennt, wie man es herausputzt und womit man es füttert, es wird einem trotzdem auf die Zehen treten, wenn man unvorsichtig ist.
An den meisten Abenden saßen Margaret und ich stundenlang nebeneinander, flickten zerrissene Winterkleidung und sahen Hannah dabei zu, wie sie mit einem Stück Faden oder Garn spielte, das zu kurz war, um es zu verwenden. Margaret hatte sehr geschickte Finger. Manchmal tat ich so, als hätte ich einen Stich ausgelassen oder fände die richtige Stelle auf dem Stoff nicht mehr, damit sie meine unbeholfenen Hände berührte, um sie wieder auf den richtigen Weg zu führen. Nie hielt sie mir meine Fehler vor, sondern lobte mich stets für meine erbärmlichen Bemühungen. Während wir die Köpfe über
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