Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
Vom Netzwerk:
mit meiner Cousine zu teilen, war noch wichtiger, als dem Fremden zu helfen. »Wir müssen sehr vorsichtig sein. Mutter bewacht die Speisekammer mit Argusaugen.«
    Nach dem Mittagessen schützte Margaret vor, sie habe vergessen, eines der Tiere zu füttern. Ich war erstaunt, wie leicht die Lüge ihr über die Lippen kam. Es gelang uns, unbemerkt Brot, Fleisch und einen Becher Apfelwein in die Scheune zu schmuggeln, wo wir jedoch einen Sicherheitsabstand zu dem Mann hielten. Der Arme war so ausgehungert, dass er das Essen hinunterschlang, ohne zu kauen. Nachdem er den Apfelwein getrunken hatte, fiel er wie tot ins Stroh. Wir sahen ihm eine Weile beim Schlafen zu und lauschten dem heiseren Geräusch, das aus seiner Kehle drang. »Findest du nicht auch, dass er gut aussieht?«, fragte Margaret. Ich stimmte zu, obwohl er sich für mich nicht von den anderen jungen Männern unterschied, die ich kannte. Nachdem wir dem Schlafenden zugeflüstert hatten, wir würden ihm am nächsten Morgen wieder etwas bringen, ließen wir ihn allein.
    In dieser Nacht drängten Margaret und ich uns im Bett eng zusammen. Unsere Hände und Füße waren ineinander verschlungen wie zwei Flussaale. Die Tante hatte Hannah so sehr ins Herz geschlossen, dass sie sie allnächtlich mit zu sich ins Bett nahm. In der Armbeuge meiner Cousine lag eine Puppe, die die Tante für sie genäht hatte. Ihr Haar bestand aus schwarzen Schnüren, und sie hatte einen scharlachroten Rock an. Der Stoff wies eine weiche Oberfläche auf, die das Licht einfing und sich unter meinen Fingern anfühlte wie die Haut eines frisch geschorenen Lamms. Der Onkel hatte ihn aus Boston mitgebracht, wo viele feine Damen Röcke und Mieder in dieser Farbe besaßen. Die Tante fand diesen Stoff zwar zu auffällig, um ihn selbst zu tragen, hatte aber ein kleines Stück davon für den Puppenrock verwendet. Margaret flüsterte mir zu, ihr Vater sei darüber sehr böse gewesen und habe der Tante den ganzen Stoffballen wieder weggenommen. Was letztlich damit geschehen sei, wisse sie nicht. Meine eigene Puppe war viel schlichter gekleidet, zeugte meiner Ansicht nach jedoch von größerer Handwerkskunst. Margaret hatte eigenhändig die Knöpfe angenäht, die Tom mir gegeben hatte. Die Knopfaugen verdarben das hübsche Gesicht der Puppe ein wenig und verliehen ihm einen traurigen Ausdruck. Außerdem weckte ihr Anblick in mir immer wieder Todesangst um meine Familie, die womöglich gerade an den Pocken starb. Als wir die Augen schlossen, um einzuschlafen, ging unser Atem im Gleichtakt wie zwei Pferde eines Schlittengespanns. »Margaret, woran hast du erkannt, dass er Quäker ist?«, fragte ich nach einer Weile.
    Sie bewegte sich neben mir. »Weil er ›Euch‹ gesagt hat.«
    »Margaret, was ist denn ein Ketzer?« Nur eines war fast so schön, wie den Wissensschatz meiner Cousine anzuzapfen, nämlich, ihren Namen auszusprechen.
    »Jemand, der gegen das Wort Gottes verstößt«, lautete die Antwort.
    »Und warum ist ein Quäker ein Ketzer?«
    Da Margaret zunächst schwieg, dachte ich schon, sie hätte mich nicht gehört. Doch bald spürte ich ihren Atem am Nacken.
    »Ein Quäker ist ein Ketzer, weil er sich keiner Kirche unterordnet und nur auf die Stimme seines Gewissens hört. Quäker glauben, dass Gott in ihnen wohnt wie ein Körperorgan und mit ihnen spricht, bis sie zittern, als hätten sie Schüttelfrost.«
    »Und spricht Gott wirklich mit ihnen?«
    »Vater sagt nein.« Margaret gähnte und schob ihr Bein über meines. »Sie werden überall verfolgt. Meinst du, Gott würde mit Leuten sprechen, mit denen ein geweihter Geistlicher nichts zu tun haben will? Und jetzt schlaf, Sarah.«
    »Warum hast du ihm dann geholfen?«
    Sie öffnete ein Auge ein Stück weit, und ihr Mundwinkel verzog sich zu einem Lächeln, wie ich es bei ihrem Vater gesehen hatte. Es war, als teilte sich ihr Gesicht dabei in zwei Hälften. Die lächelnde Margaret amüsierte sich über den Wandel in der vergänglichen Welt, während die düstere Margaret an den abwesenden Blick einer Wahnsinnigen oder Heiligen erinnerte, die im Begriff war, entweder in Verzweiflung oder in Verzückung zu versinken.
    »Ich wollte ihm helfen, Sarah, weil sie es von mir verlangt haben.« Margaret schmiegte die Hand an meine Wange. Allmählich fielen ihr die Augen zu.
    » Sie … Margaret, wer sind denn sie ?« Als ich sanft gegen ihr Gesicht pustete, um sie wach zu halten, schlug sie die Augen wieder auf.
    Langsam hob sie den Zeigefinger, sodass

Weitere Kostenlose Bücher