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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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ihr »Mama« nennen zu lassen. Wenn sie dann lächelte, hätte ich am liebsten mit meiner Schwester die Plätze getauscht, mich auf ihren Schoß gesetzt und mich von ihr streicheln, liebkosen und verwöhnen lassen. Morgens schlief der Onkel bis lange nach dem ersten Hahnenschrei. Meine Tante wurde immer melancholischer, bis ihre Trauer zu einer harten Kruste erstarrte. Wenn sie ihr Tagewerk erledigt hatte, zog sie sich das Umschlagtuch fest um die Schultern, setzte sich an den Kamin und starrte stundenlang in die Flammen.
    Schließlich kam der Tag, an dem wir glaubten, der Onkel würde gar nicht mehr zurückkehren. Es war schon lange dunkel, und wir verzehrten in bedrückter Stimmung unser Abendessen. Als wir fertig waren, kauerte die Tante auf der Stuhlkante und schaute zur Tür. Geduldig warteten Margaret und ich darauf, dass sie etwas sagte, saßen reglos da, bis uns der Rücken wehtat, und versuchten unser Bestes, um Hannah ruhig zu halten. Das Feuer war schon fast heruntergebrannt, als wir endlich an der Scheune das Klappern von Bucephalus’ Zaumzeug hörten. Kurz darauf trat der Onkel ein und sah uns wie die Salzsäulen am Tisch sitzen. Sein Haar sträubte sich, als sei er durch einen Sturm geritten, und seine Kleidung war mit einer dunklen Flüssigkeit befleckt. Er ging zum Kamin wie ein Mann, der das Deck eines schwankenden Schiffes überquert. Aus seinen Kleidern stieg ein unangenehm süßlicher Geruch auf, der an in Gewürzen gewälzte Blumen erinnerte. Als er durstig aus dem Wassereimer trank, verschüttete er den Großteil davon auf seine Weste. Dann drehte er sich zu uns um und lachte blechern auf.
    »Schlafenszeit! Mary … komm ins Bett.«
    Die Tante stand auf, nahm Hannah an der Hand, marschierte ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Das Geräusch des einrastenden Türriegels hallte durch die Wohnküche. Wir drei, Margaret, Andrew und ich, verharrten sprachlos und überrascht am Tisch, während der Onkel eine Weile mit gesenktem Kopf stehen blieb und vor sich hinmurmelte. Dabei hielt er sich an einer Stuhllehne fest, als befürchte er zu fallen. Nach einigen Minuten jedoch torkelte er zum Tisch und ließ sich schwer neben mir nieder. Sein Atem roch süßlich-scharf, seine Augen waren rot geädert. Margaret und Andrew starrten auf ihre Hände und beugten die Köpfe, als erwarteten sie eine Strafe. Bis zu diesem Abend hatte ich den Onkel immer nur lächelnd und gut gelaunt erlebt.
    »Was hast du, Onkel?«, fragte ich schließlich. »Was ist geschehen?«
    Als er sich zu mir umwandte, schwankte der Kopf auf seinem Hals bedenklich, als wolle er gleich herunterfallen. »Zauberei, Sarah. Ich habe wieder einmal Zauberei praktiziert.« Seine Sprache war so undeutlich und verwaschen, als hätten seine Lippen die Form verloren. Er beugte sich zu mir vor und legte mir einen Finger an die Lippen. »Psssst … Ich verrate dir ein Geheimnis. Soll ich, Sarah? Ich habe versucht, zu … verschwinden .« Das letzte Wort ging fast in seinem übel riechenden Atem unter.
    Ich warf Margaret einen Blick zu, doch sie schaute zu Boden. Der Onkel tippte mir auf den Kopf, damit ich ihm aufmerksam zuhörte. »Ich habe versucht, zu verschwinden, aber wie du sehen kannst, bin ich immer noch da. In Billerica, diesem Drecksnest, bewohnt von Bauerntölpeln mit ihren Weibern, ihren Bälgern, ihren Schweinen und ihren Kötern... Ich bin ein Gelehrter , Sarah! Ich habe unter Captain Gardner als Feldarzt gedient …«
    Kurz hielt er inne und erhob dann zornig die Stimme. Sein Blick huschte unstet durch den Raum. Dann seufzte er und sackte auf seinem Stuhl zusammen. Als ich Margarets unbewegte und ausdruckslose Miene betrachtete, fühlte ich mich von ihrer Gelassenheit beruhigt. Nur Andrews Gesicht war es, das mein Mitleid weckte, denn unter seinen gesenkten Wimpern quollen Tränen hervor, seine blassen Züge waren gerötet, und seine Lippen zitterten. Plötzlich wurde mir klar, dass er noch immer ein Junge und ganz und gar von der guten Meinung seines Vaters abhängig war, so sehr er Hannah und mich auch geplagt und welche üblen Reden er geschwungen haben mochte. Der Onkel griff unsicher nach meiner Hand. »Du bist doch noch immer Margarets Zwilling, oder?« Ich nickte, und er erwiderte die Geste, wobei er mir schmerzhaft die Finger zusammenquetschte. »Du bist genauso ein Toothaker wie wir alle. Ich werde ab jetzt ein Vater für dich sein … ein besserer Vater, als es ein Mann mit Blut an den Händen je sein könnte

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