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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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er über meine Schulter zeigte. Ich drehte mich um, konnte aber nur die schwere Truhe entdecken, in der wir unsere wenigen Kleider aufbewahrten. Sie zog mich fester an sich. »Die kleinen Leute im Schrank, Sarah.«
    Ich beobachtete sie beim Einschlafen. Ihre Haut schimmerte in der Dunkelheit bläulich-weiß, ihre Augen bewegten sich langsam unter den Lidern. Auf meinem Arm breitete sich eine Gänsehaut aus, und mir sträubten sich die Haare. Als ich mich vorsichtig umblickte, hörte und sah ich nichts bis auf den Wind, der ums Haus pfiff, und die vertrauten reglosen Schatten an den Wänden, die mich zum Einschlafen aufforderten. Margarets Wahn war ein Geheimnis, das ich selbstverständlich für mich behalten würde. Bevor ich einschlummerte, kuschelte ich mich näher an ihren warmen Körper und küsste sie.
    Am nächsten Morgen wollten wir dem Mann in der Scheune einen Apfel und ein Stück Brot bringen, doch er war nicht mehr da. Wir suchten jeden Winkel ab und kletterten sogar in den Heuboden hinauf, konnten ihn jedoch nicht finden. Da es nachts geschneit hatte, führten keine verräterischen Fußspuren von der Scheune weg. Und so wies nichts darauf hin, dass der Mann echt gewesen war, nicht nur eine Strohpuppe, zum Leben erweckt von unserer eigenen Phantasie.

    Am späten Nachmittag vor dem Abendessen erhielten Margaret, Andrew und ich stets Unterricht im Lesen und Schreiben und in Geschichte, und zwar einzig und allein deshalb, um uns den Zugang zur Heiligen Schrift zu ermöglichen. Da ich nur einige Wörter schreiben konnte, fragte der Onkel mich, ob meine Mutter sich je die Mühe gemacht habe, es mir beizubringen. Ich erwiderte, nein, obwohl die Wahrheit lautete, dass meine Mutter sehr wohl versucht hatte, mich das Lesen und Schreiben zu lehren. Allerdings hatten mein Eigensinn und ihre Ungeduld sich dazu verschworen, mich in Unwissenheit zu belassen. Margaret hingegen war in der Lage, sogar schwierige Passagen aus der Bibel vorzulesen. Das Kinn in die Hände gestützt, saß ich neben ihr und beobachtete, wie sich ihre Lippen bewegten, während sie die verheißungsvollen, nur halb verstandenen Worte der Propheten vortrug. Der Klang ihrer Stimme fühlte sich für mich an, als zöge man mir einen weichen Schal über die Ohren. Abends, nachdem das Geschirr gespült und das Feuer nachgeschürt war, unterhielt uns der Onkel mit Geschichten aus den ersten Kolonien und den vorangegangenen Unruhen im alten England. Wenn wir lauschend die Köpfe hoben, verwandelten sich die Schatten an den Wänden in tanzende aufständische Indianer, die blutige Skalpe schwenkten. Das Poltern eines abgebrochenen Astes auf dem Dach klang wie das Geräusch, als der abgeschlagene Kopf von König Charles I. am Whitehall-Gate die Stufen des Blutgerüsts hinuntergekullert war. Bei jeder Wiederholung wurden die Geschichten des Onkels ausführlicher und bunter ausgeschmückt. Außerdem beherrschte er verschiedene Taschenspielertricks und konnte Gegenstände, scheinbar wie durch Zauberhand, von einem Ort zum anderen bewegen, indem er uns ablenkte, sodass wir es nicht bemerkten. Eine Münze verschwand aus seiner Hand und tauchte in einem Becher Apfelwein am entgegengesetzten Ende des Tisches wieder auf. Außerdem führte er uns vor, wie er ein Hühnerei aus Andrews Kopf oder eine Feder aus meiner Ohrmuschel zog. Einmal forderte er Margaret und mich auf, uns an den Händen zu fassen, und zauberte dann mit einer großartigen Geste ein Stück Spitze zwischen unseren Handflächen hervor. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass Margaret ihm geholfen und die Spitze in ihrem weiten Ärmel versteckt haben könnte.
    Es gab nichts, wozu der Onkel keine klare Meinung gehabt hätte, und nur einige wohl überlegte Fragen waren nötig, um ihn zu einem ausführlichen Vortrag über ein historisches Thema, ein Gesetz, die Natur des Menschen oder die Geheimnisse Gottes anzuregen. In den ersten Monaten meines Aufenthalts verbrachte er viel Zeit mit uns, doch als der März anfing und der Geruch feuchter Erde durch den wellenförmig am Boden liegenden Schnee drang, verließ er häufig frühmorgens das Haus und kehrte erst spät zurück. Wenn wir nachts im Bett lagen, drang oft das Weinen meiner Tante durch die Zimmerwand. Damals glaubte ich, sie weinte aus Sorge um das Schicksal meiner Mutter und Großmutter, denn sie betete häufig darum, dass der Tod sie verschonen möge. In dieser Zeit war es ihr einziger Trost, Hannah auf den Schoß zu nehmen und sich von

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