Die Tochter der Ketzerin
Ungeachtet dessen hänselte Mercy ihn schon den ganzen Morgen lang. Als ich sie warnte, ihn besser in Ruhe zu lassen, verzog sie nur den Mund zu ihrem üblichen schiefen Grinsen und setzte ihm weiter zu. Ihre streitenden Stimmen hallten über die Beetreihen, und irgendwann hörte ich Richard grob erwidern, wenn sie nicht endlich das Maul hielte, würde er ein bisschen nachhelfen. Ich war schockiert über seine Ausdrucksweise und sah mich nach Mutter um, die ihm dafür sicher die Ohren langgezogen hätte. Mercy hingegen schien diese Drohung nicht weiter ernst zu nehmen und stellte nur den Eimer hin. »Dann komm doch und tu es«, forderte sie ihn lachend auf.
Prompt schleuderte Richard seinen Eimer ebenfalls weg und ging raschen Schrittes auf sie zu, offenbar in der Absicht, sie einzuschüchtern. Aber Mercy blieb seelenruhig, die Hände in die Hüften gestemmt, stehen. Im nächsten Moment geschah etwas Erstaunliches: Sobald Richard nah genug herangekommen war, machte Mercy ein paar Schritte, als wolle sie an ihm vorbeigehen. Dabei packte sie ihn am Hemd, schob den linken Fuß unter seinen Absatz und stieß ihn kräftig nach hinten. Richard fiel wie eine Robinie unter der Axt, lag auf dem Boden und starrte nach oben. Ich glaube, er brauchte einen Moment, um zu begreifen, warum er den Himmel und nicht den Horizont vor Augen hatte. Mercy stand vor ihm und streckte lächelnd die Hand aus, um ihm aufzuhelfen. Anfangs weigerte er sich, das Angebot anzunehmen, doch dann ließ er sich auf die Füße ziehen. Ich wartete auf das Donnerwetter.
»Wo hast du das gelernt?«, wollte er stattdessen nur wissen.
»Die Indianer sind ziemlich klein gewachsen. Und dennoch schaffen sie es, einen größeren Mann genau auf diese Weise umzuwerfen und ihm den Brustkorb aufzuschlitzen, bevor sein Herz zu schlagen aufgehört hat.«
»Das musst du mir beibringen«, sagte er, und so geschah es. Nachdem wir den Garten bewässert hatten, zogen wir uns hinter die Scheune zurück, wo wir unbeobachtet waren. Den Großteil der nächsten Stunde verbrachte Mercy damit, Richard zu zeigen, wie man einem Gegner die Füße unter dem Leib wegzog, ganz gleich, wie und aus welcher Richtung er auch angreifen mochte. Für meinen Geschmack ruhten Mercys Hände unnötig lang auf Richards Armen und Brust, und nach einer Weile wälzten sie sich im Staub, bis ihnen der Schweiß über Gesichter und Arme rann. Als Richard auf Mercys Brust saß und sie die Beine anwinkelte, sodass ihr der Rock bis über die Schenkel rutschte, trat ich, angewidert von ihrem Treiben, den Rückzug an. Tom wären wohl vom Hinglotzen die Augen aus dem Kopf gefallen, wenn ich ihn nicht am Arm gepackt und mitgeschleift hätte. Mercys Lachen war selbst dann noch zu hören, nachdem ich die Eimer zurück zum Brunnen auf der anderen Seite des Hauses gebracht hatte.
Mutter hatte die unheimliche Fähigkeit, das Wetter vorhersagen zu können. Inzwischen war es Ende Juli, und schon seit Tagen verdüsterte eine tief hängende, aufgepeitschte Wolkendecke den Himmel. Da die Weizenernte kurz bevorstand, beobachtete Vater aufmerksam die Wetterlage, denn ein allzu starker Regen hätte das Getreide verdorben. Mutter versicherte ihm, der Himmel werde nicht seine Schleusen öffnen, auch wenn Stürme und Blitze möglich seien. Im Sommer fürchteten wir Blitze besonders, denn es hatte kaum geregnet, sodass jederzeit ein Brand ausbrechen und die Scheune oder ein Getreidefeld vernichten konnte, ehe man Gelegenheit zum Löschen hatte. In der Ferne hatte es bereits einige Male geblitzt, und so liefen Tom und ich nach dem Abendessen zum Sunset Rock, gleich nördlich vom Haus, um zu sehen, wie das himmlische Feuer im Westen über den Merrimack River zog. Die Wolken schimmerten kränklich-grün, und in der Luft lag etwas Bleiernes, das uns die Härchen an den Armen hochstellte und Nackenschmerzen verursachte. Mercy war mit uns auf den Felsen gestiegen, stand eine Weile da und zwirbelte ihre Schürze zusammen, als wolle sie einem Huhn den Hals umdrehen. Ihr Atem ging schnell und flach, und kurz darauf hastete sie zum Haus zurück. Ich sprang im Gleichtakt mit dem herannahenden Donner auf und nieder. Bald konnte man sehen, wie die Blitze über Ball Hill zuckten, und weißes Wetterleuchten tanzte auf Blanchard’s Pond. Plötzlich wurde es still, und der Himmel verdunkelte sich derart, dass ich Tom, der neben mir stand, kaum noch erkennen konnte. Ich spürte, wie seine Hand nach meiner tastete. Wir warteten und
Weitere Kostenlose Bücher