Die Tochter der Ketzerin
warteten, bis ein gezackter Arm aus blauem und gelbem Licht aus dem Himmel schoss und sich wie flüssiges Quecksilber über das nur wenige Hundert Meter entfernte Blanchard’s Plain ausbreitete. Bei dem Knall schlugen meine Zähne aufeinander. Im ersten Moment waren meine Ohren taub, dann spürte ich ein schnelles Klicken, als seien Steine in ein Mühlrad geraten. Auf einmal war die Luft ganz ruhig, und im nächsten Moment erfasste uns von hinten ein kalter Windstoß, sodass wir uns fröstelnd aneinanderkuschelten. Als ich mich umdrehte und nach Osten blickte, bemerkte ich, dass eine andere Sturmfront auf uns zuraste, um sich mit ihrem Zwilling zu vereinen. Über Salem zuckten unzählige Lichter, als schösse eine Armee aus vollen Rohren, bevor sie nach Blanchard’s Plain in die Schlacht marschierte.
Das aufziehende Unwetter hatte mich kühn gemacht, und ich spürte, wie ich auf die Zehenspitzen gehoben wurde, als wollten die Winde mich in ihre Reihen aufnehmen. Als ich zu Tom meinte, wir könnten uns die Blitze doch viel besser vom Heuboden aus ansehen, war er erbleicht, zitterte und kletterte anstelle einer Antwort so rasch vom Felsen herunter, dass er mir dabei fast den Arm auskugelte. In jener Nacht lag ich schlaflos im Bett. Ständig horchte ich auf den zurückweichenden Donner, der, immer schwächer werdend, durch unser kleines Zimmer grollte. Deshalb bemerkte ich auch, dass Mercy wenige Minuten, nachdem Mutter und Vater schlafen gegangen waren, aus dem Bett schlüpfte. Am Fußende verharrend, lauschte sie, ob ich auch weiter regelmäßig atmete, und schlich dann barfuß hinaus. Nachdem ich bis zehn gezählt hatte, stand ich ebenfalls auf, um ihr zu folgen. Hastig schlüpfte ich in mein Kleid und trug die Schuhe in der Hand, damit mich niemand hörte. Als ich aus dem Haus kam, sah ich, wie sich Mercys weißes Nachthemd im Wind blähte, während sie sich mit dem Scheunentor abmühte. Im nächsten Moment wurde sie von der Dunkelheit im Inneren des Gebäudes verschluckt.
Auf dem kurzen Weg zur Scheune brauchte ich nicht auf das Geräusch meiner Schritte zu achten, denn der Wind wehte immer noch kräftig, fing sich in den hohen Bäumen und ließ sie knirschen und ächzen. Ich drückte die Tür einen Spalt auf, damit ich hineinschleichen konnte, und wartete dann lauschend in der pechschwarzen Finsternis. Ich hörte das leise Schnauben und Scharren der Kuh und der Ochsen in ihren Ställen und übte mich in Geduld, bis die Tiere wieder eingeschlafen waren, bevor ich mich weiter anpirschte. Plötzlich drang mir ein Seufzen und Stöhnen ans Ohr, das jedoch nicht aus den Ställen, sondern vom Heuboden kam. Leise huschte ich zur Leiter und erstarrte, als ein Lichtblitz den Raum erhellte, sodass ich sogar die rollenden Augen des alten Gauls sehen konnte, der an seinem Strick zerrte. Das Stöhnen verstummte kurz, setzte dann aber mit noch größerer Leidenschaft wieder ein. Ich ertastete die Leiter und kletterte langsam hinauf, wobei ich darauf achtete, nicht auf meinen Rocksaum zu treten. Endlich ragte mein Kopf über die letzte Sprosse, und ich sah im Licht des nächsten Blitzes zwei Menschen, die miteinander kämpften und rangen, als wollten sie sich gegenseitig umbringen. Im nächsten Moment wurde es dunkel, und ich hörte, wie sie sich im Heu wälzten. Mercy lachte, und dann sagte Richard: »Halt still, du dreckige Schlampe.« Trotz seiner groben Ausdrucksweise schwang auch in seinem Tonfall Gelächter mit. Dann herrschte bis auf ihren stoßweise gehenden Atem Schweigen. Ich zog einen Schuh aus, hob ihn hoch über den Kopf, zielte auf die ineinanderverschlungenen Schatten und warf ihn beim nächsten Blitz mit aller Kraft nach Mercys Kopf. Erneut wurde es dunkel, doch zu meiner Genugtuung drangen Mercys Schmerzensschrei und ihr lautes Schimpfen an mein Ohr. Blitzschnell war ich die Leiter hinunter und rannte zur Tür hinaus, bevor die beiden Gelegenheit hatten, mich zu verfolgen.
Ich kroch wieder ins Bett, kehrte Mercy den Rücken zu, als sie auf Zehenspitzen ins Zimmer kam, spürte ihren Blick auf mir und dann einen Rums, denn sie hatte den Schuh aufs Bett fallen lassen. Die Seilaufhängung des Bettes knirschte, als Mercy sich, den Kopf auf den Arm geschmiegt, hinlegte. Doch ich wusste, dass sie lange keinen Schlaf finden würde. Ihr Körper verströmte einen strengen, animalischen Geruch. Ich ließ mir das Wort eine Weile durch den Kopf gehen, bevor ich den Mund öffnete und es aussprach: »Hure.« Da sich der
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