Die Tochter der Ketzerin
liefen am liebsten geradeaus, waren vernünftig und bevorzugten einen ebenen Untergrund und ausgetretene Pfade unter ihren Hufen. Und dann seien da noch die Wildpferde, denen der Widerspruchsgeist im Blut liege und die gerne vom Pfad abwichen, um durch den Morast zu stapfen. Dann wies der Onkel auf einen Schlammspritzer auf meinem Rock. »Verstehst du, was ich meine?«, sagte er lachend.
Wir sammelten Mohrenblüten am Ufer des Skug River und wanderten dann weiter nach Osten, um in einem aufgegebenen Obsthain Äpfel zu pflücken. Die Äpfel waren klein und trocken. Mutter nannte sie Blaxtons Gelbe Süße, nach dem Mann, der sie vor vielen Jahren aus England eingeführt hatte. Jedes Kerngehäuse enthielt Dutzende von Kernen, und Richard drohte, uns würden Apfelbäume aus den Köpfen wachsen, wenn wir einen davon schluckten. Andrew, der seit seiner Krankheit alles glaubte, schluckte immer wieder einen Kern und verbrachte dann stundenlang damit, in seinen Ohren nach Zweigen zu tasten. Im Oktober wurden die Tiere im Wald und in den Ställen dick und fett, und auch wir gediehen, weil wir genug zu essen hatten. Die überquellende Speisekammer, das milde Wetter und der Überschuss, den wir zum Tauschhandel einsetzen konnten, hätten mich eigentlich zufrieden stimmen müssen. Und dennoch wurde ich die Angst vor einem Schicksalsschlag nicht los. Was war, wenn der Wind unser Dach wegblies? Wenn unser Brunnen vergiftet wurde? Wenn einer von uns ausrutschte und auf die Axt fiel? Ich konnte die düstere Vorahnung nicht vergessen, die mich an jenem Tag ergriffen hatte, als wir die Kuh zurück zur Preston-Farm brachten. Dass sich meine bangen Erwartungen schließlich in Gestalt von Mercy Williams erfüllten, brachte mir jedoch keine Genugtuung.
Ich sah sie jeden Sonntag im Versammlungshaus, wo sie nun neben Phoebe Chandler, der Tochter des Gastwirts, saß. Allerdings schaute sie nie in unsere Richtung und strafte uns mit Nichtachtung. Phoebe war elf Jahre alt und ein recht durchschnittliches und nichtssagendes Mädchen. Außerdem hatte sie schlechte Augen, die sie immer zusammenkniff, um besser sehen zu können. Mit ihren vorstehenden Schneidezähnen erinnerte sie mich an einen Biber, der, einen Stock im Maul, einen Fluss überquert. Eines Sonntags predigte Reverend Dane über den 19. Psalm »Das Gesetz des Herrn ist fehlerlos, erquickt die Seele«. Als er seinen gütigen Blick über jedes der anwesenden Gesichter schweifen ließ, glaubte er zweifellos daran, dass sich seine Gemeinde nur aus guten Menschen zusammensetzte. Nach dem Abschlussgebet strömten wir hinaus in einen wunderschönen Tag. Die Sonne spendete ein goldenes Licht, und ein frischer Wind vertrieb die morgendliche Hitze. Eingezwängt zwischen einigen Frauen, wartete ich an der Tür, als ich plötzlich einen schmerzhaften Stich im Rücken und dann noch einen in der rechten Gesäßhälfte spürte. Mit einem Aufschrei fuhr ich herum und sah Mercy hinter mir stehen. Sie hatte die Hände vor dem Bauch verschränkt und trug eine Unschuldsmiene zur Schau. Phoebe neben ihr hielt die Hand vor den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken. Am liebsten hätte ich Mercy angegriffen und ihr die gestohlene Nadel entrissen, mit der sie mich gestochen hatte. Doch ich warf ihr nur einen hasserfüllten Blick zu und drängte mich grob an den Frauen vorbei, die mir den Weg versperrten. Draußen angekommen, hielt ich Ausschau nach Tom und Andrew, während Mutter, die weinende Hannah im Arm, schon voraus zum Karren ging. Kurz darauf traten Mercy und Phoebe in den Hof. Sie tuschelten und schauten dabei immer wieder zu mir herüber. Um Abstand zu ihnen zu halten, zog ich mich in den Schatten der Bäume zurück, die rings um den Friedhof vor dem Versammlungshaus wuchsen. Die beiden folgten mir und bezogen in meiner Nähe Posten, damit ich auch ja kein Wort überhörte.
»Denkst du nicht auch, dass Rot bei einem Mädchen eine hässliche Haarfarbe ist?«, begann Mercy. Als Phoebe leise auflachte, fuhr Mercy fort: »Das ist jedenfalls meine Meinung. Bei den Indianern würde ein Mädchen mit roten Haaren sofort umgebracht, weil sie die Farbe so abscheulich finden.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust und stellte mich taub, doch etwas in ihrem Tonfall sorgte dafür, dass mein Herz schneller schlug. Im nächsten Moment erschien Mary Lacey. Sie verstand auf Anhieb, wer Jäger und wer Beute war, und schlug sich sofort auf die richtige Seite.
»Ich habe gerade zu Phoebe gesagt, man sollte
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