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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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über den Schnee davonfuhren. Ich musterte Mutter und stellte fest, dass Roberts Warnung sie nicht zu beunruhigen schien, was auch meine eigenen Ängste ein wenig vertrieb. Vaters Miene war schwieriger zu deuten, denn seine Lippen waren unbewegt, auch wenn sein Kiefer mahlte, als kaue er auf einem Stück Knorpel herum. Als ich mich umdrehte und Elizabeth zuwinkte, erwiderte sie die Geste nicht.
    Wir hatten erst die halbe Strecke auf der Boston Way Road hinter uns gebracht, als das Pferd zu lahmen begann, sodass alle bis auf mich, Hannah und Tom zu Fuß gehen mussten. Tom wollte eigentlich auch laufen, doch die bittere Kälte ließ ihm die Brust eng werden. Bleich und nach Luft schnappend, legte er den Kopf auf meinen Schoß. Allerdings setzte ich ihm so lange zu, bis er mir, hustend und keuchend, die Geschichte von dem Gemetzel in York erzählte, die er von den älteren Jungen gehört hatte. Während ich den Berichten über erbeutete Skalps, abgehackte Arme und Beine und die vielen Gefangenen lauschte, mit denen die Abanaki und die Naragansett Tauschhandel trieben, setzten wir langsam den Nachhauseweg fort. Dass Blutvergießen und Töten vor der Tür zurückblieben, ließ uns das heimelig warme Feuer noch gemütlicher erscheinen.

    »Wenn die Tage länger werden, wird die Kälte strenger«, lautete ein altes Sprichwort. Doch in den ersten Märztagen erwärmte die Nachmittagssonne Eis und Schnee, sodass sich kleine Rinnsale und Bächlein bildeten. Aufgeregt warteten wir darauf, dass Vater uns das Zeichen gab, unsere Eimer zu nehmen und auf die Billerica Meadow zum Sirupsammeln zu gehen. Als es endlich so weit war, vermummten wir uns mit Mänteln und Schals und stopften uns Stroh in die Schuhe, weil der Boden im Schatten noch gefroren war. Dann folgten wir Vater im Gänsemarsch und aufgereiht wie die Orgelpfeifen in den Wald. Zuerst kam Vater, dann Richard, danach Andrew, anschließend Tom und zu guter Letzt ich selbst. Unsere Kolonne erinnerte an die Nachhut eines Kinderkreuzzugs, der aus dem Land der Türken durch einen rußgeschwärzten Forst zurückkehrte, nur bewaffnet mit einem Rohr, einem Haken und einem kleinen Blecheimer.
    Wir marschierten über Preston’s Plains nach Westen und schlugen, am verschneiten Ufer des Shawshin entlang, den Weg nach Süden ein. Bald überquerten wir die südliche Flussgabelung und hielten nur inne, um die silbrigen Überreste von Algen und Fischen zu betrachten, die starrgefroren im reglosen Schlaf lagen. Richard, der zu schnell wuchs und deshalb etwas unbeholfen war, fiel mit einem Plumps aufs Eis. Als wir ihn auslachten, schubste er uns, bis wir ebenfalls ausrutschten und in den Schnee purzelten. Vater streckte den langen Arm aus, um mir aufzuhelfen, und schalt uns wegen unserer Herumtoberei. Allerdings sah ich, dass er schmunzelte und Richard seinerseits einen kleinen Stoß versetzte. Der Ahornhain war sehr alt, und viele Bäume wuchsen zehn bis fünfzehn Meter hoch. Vater erklärte uns, früher hätten die Indianer hier Schlitze in die Bäume geschlagen, den Saft mit hohlen Holzstücken aufgefangen und ihn mithilfe von heißen Steinen eingedickt. Nun suchte er die besten Bäume aus, indem er die Risse und Spalten mit den Fingern abtastete. Nie zapfte er eine Stelle unter einem tief gelegenen Ast oder dicht an einer Verletzung in der Rinde an, die nach Norden zeigte. Nachdem er seine Wahl getroffen hatte, klopfte er das Rohr vorsichtig von unten nach oben in die Rinde, damit der Saft aus dem Inneren des Baums abwärts floss. Da es viele Stunden dauerte, die Eimer zu füllen, ging Vater in den Wald, um nach seinen Fallen zu sehen, und ließ Richard mit der Flinte bei uns zurück. Unweit vom Ahornhain hatten wir zarte Fußspuren im Schnee gesehen, und zwar nicht die kantige Form eines englischen Schuhs, sondern die eines abgerundeten, weichen Mokassins. Vater sagte, dass erst vor wenigen Tagen ein Indianer hier gewesen sein müsse.
    Die Rücken nach Nordosten gewandt und mit Blick auf den Wald, saßen wir im Kreis und raunten uns Geschichten zu, bei denen sich uns die Nackenhaare aufstellten. Wir sprachen auch über die Frauen, die vor kurzem in Salem verhaftet worden waren. Eine von ihnen war schon sehr alt und bei den Männern und Frauen im Dorf so beliebt, dass die Leute auf den Straßen in Tränen ausbrachen, als man sie vom Krankenbett vor den Magistrat schleppte. Da ich noch nie einen Magistrat gesehen hatte, stellte ich mir seine Mitglieder als Geschöpfe mit

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