Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
Vom Netzwerk:
munkelte, Robert sei dem Mädchen mehr als nur ein Onkel gewesen, zeugte von ihrer Gutmütigkeit. Sie duldete kein schlechtes Wort über Elizabeth und behielt sie im Haus, obwohl die meisten Frauen sie sicher vor die Tür gesetzt hätten. Dank ihrer hohen Meinung von Elizabeth war der Ruf des Mädchens bald wieder hergestellt, sodass meine Mutter spöttisch anmerkte: »Erstaunlich, wie ähnlich sich die Tugend und die Jungfräulichkeit sind. Es ist doch alles eine Frage der Betrachtungsweise.«
    Da Robert Russell oft in Andover und sogar im weit entfernten Boston Handel trieb, erfuhren wir von ihm viel Neues. Ende April teilte er uns mit, fünfundzwanzig weitere Männer und Frauen seien gefangen genommen worden und würden nun im Dorf Salem wegen Umgangs mit dem Teufel festgehalten. Zu den Verhafteten gehörte Elizabeth Proctor, eine Hebamme und Kräuterheilerin. Einige Tage später lieferte man auch ihren Mann, John Proctor, ins Gefängnis von Salem ein, weil er sich für sie verwendet hatte. Einige der Verhafteten waren alte nörglerische Frauen, andere sehr wohlhabende Leute wie das Ehepaar Bishop und Philip English, der sich später durch Bestechung die Freiheit erkaufte. Auch Sklaven waren dabei, ebenso wie Reverend George Borroughs, der ehemalige Dorfgeistliche von Salem, der in Ketten aus Maine zurückgebracht worden war. Die Festgenommenen stammten aus Dörfern wie Topsfield, Ipswich, Reading, Amesbury, Beverly und Salem, einer kam sogar aus dem entfernten Boston. Aus Andover war bis jetzt noch niemand dabei. Einer wie der andere wurde in Ketten und Eisen vorgeführt, um den verhexten jungen Frauen Erlösung von ihrem Elend zu verschaffen. Bald jedoch behaupteten die angeblichen Opfer, dass noch viel mehr Hexen ihr Unwesen trieben und ihre Spukgestalten ausschickten, um Unschuldige zu quälen. Als die Klageführerinnen sich erneut kreischend auf dem Boden wälzten, kamen die angesehensten Theologen und Rechtsgelehrten, die Salem zu bieten hatte, zu dem Schluss, dass da wohl noch weitere Hexen sein mussten.

    Am Sonntag, dem 15. Mai, war der Himmel dicht bewölkt. Jedoch hing die Wolkendecke so hoch, dass sie wirkte, wie gleichmäßig mit grauer Farbe aufgemalt. Ich saß, auf dem Weg zum Versammlungshaus, im Wagen und hielt mit einer Hand Hannah am Rock fest, weil sie sich weit über die Seite lehnte und die pummeligen Fingerchen nach den sich drehenden Speichen ausstreckte. Mit der anderen Hand umklammerte ich die Ecke einer Ölhaut, die Vater über uns gebreitet hatte, denn bei unserem Aufbruch hatte Nieselregen eingesetzt. Die Luft war abwechselnd schwül und kalt, sodass ich ständig das Umschlagtuch umlegte und wieder abnahm, weil ich nicht wusste, ob ich schwitzte oder fror. Mutter hatte sich den ganzen Morgen barsch und unwirsch verhalten, weil ihr, wie uns anderen auch, vor dem Besuch des Versammlungshauses graute. An den letzten beiden Sonntagen hatte sich eine bleierne Stimmung über die Gemeinde gelegt, denn Reverend Barnards Predigt war mit den Namen derer durchsetzt gewesen, die in Salem wegen des Vorwurfs der Hexerei festgenommen worden waren. Der Reverend deutete das als Vorzeichen einer großen Schlacht, und zwar einer, die jeden Moment auf Andover übergreifen konnte. Inzwischen hatten seine düsteren Warnungen die gütigen Worte von Reverend Dane verdrängt. Wie ein Schiffskapitän führte er nun das Kommando und hatte so ausreichend Gelegenheit, in seinen Schreckensvisionen zu schwelgen.
    Wir kamen eine volle Viertelstunde zu spät. Der Reverend, der in der Kanzel stand, hielt in seiner Tirade inne, um uns mit Blicken zu folgen, bis wir ganz hinten im Raum Platz gefunden hatten. Unsere Sitznachbarn starrten uns zwar nicht offen an, doch ein verstohlenes Nicken ging wie eine Welle durch den Raum, begleitet von einem wissenden Raunen: »Seht ihr, seht ihr …« Als ich die erste Reihe nach Reverend Dane absuchte, erkannte ich zu meiner Überraschung Reverend Nason aus Billerica, der uns da mit den anderen Ältesten gegenübersaß. Er war zwar noch aufgedunsener als früher, hatte jedoch einen wachen Blick und schien seine Augen innerhalb ihres begrenzten Gesichtsfelds scharf stellen zu können wie ein Fernglas. Kurz starrte er mich an, als wisse er, dass ich ihn von meinem Versteck in Margarets Zimmer durch das Loch in der Wand beobachtet hatte. Im nächsten Moment wandte er sich abrupt ab.
    Nach dem Absingen der Psalmen begann Reverend Barnard in zackigem, abgehacktem Ton zu sprechen: »In

Weitere Kostenlose Bücher