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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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Menschenköpfen und den Körpern von Krähen vor, die auf einer langen Bank kauerten, ungeduldig mit den Krallen scharrten und es kaum erwarten konnten, ihren Gefangenen das Fleisch von den Knochen zu picken. Obwohl es von Andover nach Salem nicht weit war, kannten wir niemanden, der dort wohnte. Und so kam keiner von uns auf den Gedanken, dass der Verdacht der Hexerei ebenso wenig vor Stadtgrenzen haltmachen könnte wie die Pocken.
    Als es am 26. März wieder kalt wurde, wussten wir, dass nun Schluss mit dem Ahornsirup war. Mutter kratzte den letzten Sirup aus unseren Eimern, und dann durften wir uns den größten Genuss des ganzen Winters gönnen. Jeder von uns erhielt ein wenig heißen Sirup, den wir auf ein Häufchen Schnee gossen, um Schneezucker zu machen. Nachdem ich meinen Anteil im Hof auf eine weiß gefrorene Stelle gegeben hatte, verwandelte sich die braune Flüssigkeit in eine kupferfarbene Kruste, die für mich plötzlich aussah wie Blut, das durch ein Leichentuch sickerte. Als ich die Hand danach ausstreckte, begann sie zu zittern. Obwohl mir in Erwartung des süßen Geschmacks das Wasser im Munde zusammenlief, brachte ich es nicht über mich, die Leckerei vom Boden aufzuheben. Da es mir den Appetit verschlagen hatte, schenkte ich Tom meine Portion. Mutter, die das beobachtet hatte, fühlte mir die Stirn und verabreichte mir sofort ein Mittel gegen Magenverstimmung, von dem mir noch eine Stunde lang übel war. Gegen Ende der Woche erfuhren wir von Richard, dass an diesem Tag zu genau jener Stunde die Richter im Gefängnis von Salem ein vierjähriges Mädchen namens Dorcas Good befragt hatten. Ihre kleinen Füße und Hände waren in eiserne Ketten gelegt, damit sie nicht ihren Geist ausschicken konnte, um die Mädchen, die sie verraten hatten, zu quälen. Später wurde Dorcas in das Kellerverlies zurückgebracht, wo ihre Mutter bereits seit Tagen angekettet in der Dunkelheit schmachtete.

    Ende März schneite es unablässig, bis der Schneefall eines Tages plötzlich aufhörte. Am letzten Morgen des Monats wurde ich noch bei Dunkelheit von Mutter geweckt. Sie sagte, wir müssten in die Scheune gehen und das Geschwür am Bein des Pferdes aufstechen, wenn wir das Tier nicht verlieren wollten. In der Kniekehle des Pferdes war ein etwa faustgroßer Knoten entstanden, der sich heiß anfühlte und bei Berührung offenbar schmerzte. Richard hatte ihn zwar schon am Vorabend aufgestochen, war aber offenbar nicht zum Kern vorgedrungen, weshalb die Flüssigkeit nicht völlig ausgetreten war. Da es sich um ein nicht ungefährliches Vorhaben handelte, warnte man mich, mich von den Hufen des Pferdes fernzuhalten und gut aufzupassen, damit ich etwas lernte. Richard umklammerte den Kopf des Pferdes mit beiden Armen und hielt eines der langen, zarten Ohren vorsichtig zwischen die Zähne geklemmt. Wenn Mutter das Geschwür aufschnitt, würde er den Kopf des Pferdes nach unten ziehen und kräftig zubeißen, damit das Tier rückwärts austrat, anstatt sich aufzubäumen und mit den Vorderhufen zuzuschlagen.
    Ich fror und war übellaunig, weil man mich so früh geweckt hatte, sodass ich auf dem Weg zur Scheune die Umgebung des Hauses kaum wahrnahm. Die Welt war weiß, blau und schwarz, und bald wirkte Richards vor mir herstapfende Gestalt auf mich so schattenhaft wie die Bäume am Horizont. Der Schnee dämpfte unsere Schritte, vermutlich der Grund, warum Allen uns nicht kommen hörte. Als wir etwa zwanzig Schritte von der Scheune entfernt waren, schwang die Tür ein Stück auf, und wir sahen einen zierlich gebauten Mann herausschlüpfen. Anfangs war sein Gesicht nicht auszumachen, doch dass wir drei plötzlich wie aus dem Nichts vor ihm standen, hatte ihn offenbar erschreckt, denn er riss entsetzt die Augen auf, sodass wir das Weiße darin erkennen konnten. Wenn Allen auch nur einen Funken Verstand gehabt hätte, hätte er sich für seine Anwesenheit in unserer Scheune eine glaubhafte Ausrede ausgedacht. Aber er blieb nur wie angewurzelt stehen und rannte im nächsten Moment einfach los. Seine Fußabdrücke im Schnee waren ein klarer Beweis seiner Schuld. Dank seiner langen Beine hatte Richard ihn rasch eingeholt und zerrte ihn an den Haaren zu Boden. Mühsam rappelte Allen sich auf, ruderte mit den Armen und wollte Richard mit der geballten Faust ins Gesicht schlagen. Dabei atmete er durch den Mund und stieß schrille Schreie aus wie eine Frau, während der Speichel ihm von den Lippen sprühte. Doch Richard beugte sich vor

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