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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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diesen Zeiten müssen viele leiden. Die meisten von ihnen sind Kinder. Unschuldige. Christen. Heilige … Ich selbst bin vor zwei Wochen Zeuge von Hexenkunst geworden, als ich mich mit einigen Glaubensbrüdern im Haus von Reverend Parris im Dorf Salem traf. Dort habe ich mit eigenen Augen das Werk des Teufels gesehen, der versucht hat, die Erlösung dieser gepeinigten Kinder zu verhindern. Mein Bruder im Herrn, Reverend Nason, der hier vor Ihnen sitzt, hat diesen Kampf ebenfalls miterlebt. Genauso wie ich ist er deshalb fest entschlossen, sich unermüdlich Tag und Nacht gegen eine weitere Ausbreitung des Bösen einzusetzen. Denn ich glaube, meine liebe Gemeinde, dass es sich ausbreiten wird wie eine Seuche, wenn wir nicht fleißig und wachsam sind. Doch wir werden diese schwarze Kunst durch Gebete und Zeugenaussagen enttarnen. Ja, Zeugenaussagen. Es genügt nämlich nicht, das Böse zu fürchten oder dagegen anzubeten. Man muss es ans helle Licht des Tages zerren, herausschneiden, beseitigen und, wenn nötig, mit Feuer und Schwert reinigen, denn schon in der Heiligen Schrift heißt es: ›Eine Hexe sollt ihr nicht am Leben lassen.‹«
    Kurz hielt er inne, um sich wieder zu fassen, zu schlucken und seine Miene zu glätten, die sich zu einer abscheulichen Fratze verzogen hatte. Dann deutete er auf Reverend Nason und fuhr, nun ruhiger und in verschwörerischem Ton, fort, als teile er uns ein Geheimnis mit: »Morgen wird er ins Dorf Salem reisen, um Zeugnis über einen Mann aus Billerica abzulegen, der seines Zeichens Arzt ist und behauptet, eine Hexe getötet zu haben. Außerdem will er in der Lage sein, eine Hexe überall zu erkennen, und zwar nicht durch Gebet, Fasten oder den Rat seines Geistlichen, sondern mithilfe von Zauberritualen. Sogar seine kleine Tochter hat er in diesen Künsten unterwiesen und prahlt damit in den Tavernen von Billerica ebenso wie hier in Andover. Das ist Teufelswerk. Seht ihr, wie es um sich greift? Wie es, Nebelschwaden gleich, Stadtgrenzen und Straßen überschreitet?«
    Mir stockte der Atem, und das Blut pulste in meinem Schädel wie ein Klöppel in einer Glocke. Vor meinem geistigen Auge sah ich Margaret, ordentlich und kerzengerade, vor Reverend Nason stehen und ihren Katechismus aufsagen, woran man eine Hexe erkennen könne. Dann hörte ich meinen Onkel ergänzen, er wisse ein Mittel gegen die Zauberkraft von Hexen.
    »Dieser Mann verdirbt seine eigenen Kinder. Seht ihr, wie es um sich greift? Wer weiß, was er sonst noch tut, um andere Angehörige seiner Familie zu vergiften? Seht ihr, wie es um sich greift?« Der Reverend wiederholte den letzten Satz ein ums andere Mal und blickte dabei seine Gemeindemitglieder nacheinander unverwandt an, bis seine Worte zum Refrain eines Psalms der Vergeltung geworden waren. Köpfe wogten zwischen uns und Reverend Barnard hin und her (»Seht ihr, wie es um sich greift?«) wie Fahnen, die im Wind wehten (»Seht ihr, wie es um sich greift?«). Schließlich wussten alle im Versammlungshaus, dass Roger Toothaker, seines Zeichens Arzt, mit den Carriers verschwägert war. Zu guter Letzt wandte sich Reverend Barnard mit drohender Miene an Reverend Dane, der mit seiner Frau und seinen Söhnen und Töchtern in der ersten Reihe saß. Denn wie ebenfalls allgemein bekannt, waren die Carriers ihrerseits mit den Danes verschwägert.
    Sobald das letzte »Amen« erklang, sprang ich auf, um als Erste zur Tür zu hasten. Doch Mutters Finger schlossen sich fest um meinen Arm, sodass ich sitzen bleiben musste, während die Gemeinde, einer nach dem anderen, ernst und schweigend an uns vorbeidefilierte wie am offenen Sarg eines Verstorbenen. Mutter verharrte mit ausdrucksloser, kühler und stolzer Miene, ohne nach links und rechts zu schauen. Nur an der blauen Ader, die schnell und heftig an ihrer Schläfe pochte, erkannte ich, wie wütend sie war. Als alle draußen waren, ließ sie meinen Arm los, und ich folgte ihr ins Freie. Inzwischen hatte sich das Nieseln in einen Wolkenbruch verwandelt. Mutter zog sich das Umschlagtuch über den Kopf und zerrte mit der anderen Hand Hannah zum Wagen, wo Vater uns erwartete. In dem Morast war mir ein Schuh vom Fuß gerutscht, und während ich mich damit abmühte, ihn wieder zu befreien, säuselte mir eine leise Stimme tückisch ins Ohr.
    »Hexe«, sagte die Stimme. Als ich mich umdrehte, sah ich Phoebe Chandler vor mir. Hinter ihr standen Mercy, Mary Lacey und ein paar andere Mädchen, die ich nicht kannte.
    »Hexe«, wiederholte

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