Die Tochter der Ketzerin
gerissen. Während Richard mit einem Eisenhaken und einem Strick hantierte, hielt ich die Laterne. Der Brunnen war zu Lebzeiten meines Großvaters gegraben worden. Die Steine waren glitschig von grünen und schwarzen Flechten, und Baumwurzeln hatten sich durch das Mauerwerk gebohrt. Der Wasserspiegel war tief, denn der Blanchard’s Pond, der den Brunnen unterirdisch speiste, führte wegen des heißen Wetters weniger Wasser. Es war ein düsterer Tag, und es hingen tiefe Wolken am Himmel, weshalb wir uns beeilten, den Eimer zu retten, bevor es zu regnen anfing. Die Welt war still wie so oft vor einem Unwetter, und die Luft war schwül und stickig. Die Laterne beleuchtete unsere Gesichter von unten, als wir uns in den bemoosten Brunnen beugten, und tauchte sie in einen gespenstisch grünen Schein. Ungeduldig schob Richard meine Arme hin und her und drehte die Laterne, um den auf dem schwarzen Wasser treibenden Eimer besser sehen zu können. Da sein Gesicht dicht an meinem war, bemerkte ich, dass er sich heute Morgen nicht mit Vaters Rasiermesser rasiert hatte, denn er hatte dunkle Stoppeln am Kinn.
»Ich glaube, Mutter kommt bald nach Hause«, sagte ich, woraufhin er mir einen merkwürdigen Blick zuwarf. Aber er antwortete nicht. »Niemand ist so entschlossen wie Mutter, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hat. Sie wird sie mit Worten weichklopfen«, fügte ich nach einer Weile hinzu.
Immer wieder hatte Richard den Haken halbherzig in den Brunnen gesenkt und wieder nach oben gezogen. Als er meine Worte hörte, wurden seine Bewegungen heftiger. »Du weißt nicht, wovon du redest«, meinte er leise wie zu sich selbst.
Eigentlich hatte ich auf Bestätigung und Ermutigung gehofft, weshalb mich seine gedankenlose Bemerkung bis ins Mark traf. »Richard, du bist auch nicht allwissend. Ich bin schließlich kein Dummerchen. Mutter hat mir gesagt …«, protestierte ich.
»Du hast ja keine Ahnung«, gab er mit so lauter Stimme zurück, als hätten wir an entgegengesetzten Enden eines Feldes gestanden, nicht Seite an Seite. Sein Atem traf heiß meine Wange.
Wir traten vom Brunnen zurück und starrten einander zornig an. Ich ärgerte mich über seine herablassende Art und seine Gefühllosigkeit, doch vor allem hatte ich Angst. Im Dämmerlicht der Laterne und mit den brüchigen Steinen des Brunnens hinter sich, sah Richard aus wie hinter Gefängnismauern. Als ich ihn am Arm fassen wollte, riss er sich los. »Sie haben Bridget Bishop gehängt«, verkündete er. Ich sah ihn verständnislos an, woraufhin er sich vorbeugte. »Sie haben Bridget Bishop wegen Hexerei gehängt. Sie wurde vom Gericht in Salem veurteilt, in einem Karren zum Galgenhügel gefahren und an drei Klaftern Seil aufgeknüpft.«
»Wann …«, begann ich, den Kopf voller Fragen, die ich nicht zu stellen wagte.
»Am vergangenen Freitag. Am zehnten Juni.«
»Aber wenn sie sie gehängt haben …«
»Du meinst, dann muss sie wohl auch eine Hexe gewesen sein. Zugegeben, sie war eine gehässige und scharfzüngige Tavernenwirtin, die Puppen in ihrem Keller hatte. Doch sie wurde angezeigt, weil andere behaupteten, dass sie eine Hexe sei. Sie wurde vor Gericht gestellt und verurteilt, weil andere behaupteten, dass sie eine Hexe sei. Und sie wurde gehängt, weil andere sie der Hexerei bezichtigten.« Richard hatte mich an den Armen gepackt und schüttelte mich bei jedem Wort wie eine Kürbisrassel. Plötzlich ließ er mich los, sank gegen die Brunnenwand und schlug die Hände vors Gesicht.
»Du hast ja gar keine Vorstellung. Es sind nur Mädchen, aber sie weinen und schreien und zeigen mit dem Finger auf jeden x-Beliebigen. Die Richter hören sie an, glauben ihnen, und dann wird wieder ein Mann oder eine Frau ins Gefängnis von Salem geworfen. Wer diesen Mädchen widerspricht, wird von ihnen prompt der Hexerei bezichtigt. Sarah, ich war bei der Verhandlung dabei und habe selbst gesehen, wie Bridget Bishop verurteilt wurde. Man hat sich gefühlt, als würde man verrückt und stünde in einem Versammlungshaus voller tobender Wilder.«
»Und was ist mit Mutter? Sie ist doch keine Hexe. Die Richter müssen ihr einfach glauben«, protestierte ich, am ganzen Leibe zitternd.
»Goodwife Bishop hat noch ihre Unschuld beteuert, als man ihr die Schlinge um den Hals legte.« Offenbar bekam Richard Mitleid mit mir, denn er fügte hinzu: »Derzeit ist es in Salem recht ruhig. Es hat keine neuen Verhaftungen gegeben, denn alle Aufmerksamkeit gilt den
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