Die Tochter der Ketzerin
Zehen treten können, bevor sie mich bemerkte, denn sie hatte schlechte Augen, und der Mond war noch nicht aufgegangen. Aber ich verbarg mich weiter zwischen den Bäumen. »Mädchen, was tust du da?«, raunte ich drohend. Daraufhin stieß Phoebe einen Schreckensschrei aus, schleuderte die Eimer buchstäblich von sich und drehte sich zitternd hin und her, um festzustellen, woher die Stimme kam. Als sie sich endlich bückte, um die heruntergefallenen Teller und Schüsseln aufzusammeln, rief ich wieder: »Mädchen, wo willst du hin?« Kreischend raffte Phoebe so viele Gegenstände wie möglich zusammen und hastete auf den Gasthof zu. Ich verfolgte sie durch die Dunkelheit und gab dabei ein raues, heiseres Keuchen von mir, als wäre ein hungriger Wolf hinter ihr her. Erst als sie sich verzweifelt gegen die Küchentür warf, blieb ich stehen und sah zu, wie sie panisch versuchte, sie aufzudrücken. In ihrer Angst hatte sie nämlich völlig vergessen, dass sich die Tür nach außen öffnete. Ich stand da und lachte lautlos in mich hinein, während Phoebe schluchzend gegen die Tür trommelte und um Einlass flehte. Endlich riss ihre Mutter, die drinnen stand und vermutlich einen Mordanschlag fürchtete, die Tür auf, mit dem Ergebnis, dass Phoebe schwungvoll zu Boden geschleudert wurde. Wimmernd und jammernd warf sie sich ihrer Mutter an die üppige Brust und ächzte, ein Gespenst habe sie über den Hof gehetzt. Ich machte mich auf den Heimweg. Anfangs genoss ich meine Rache noch, doch bald wurde ich rastlos wie ein in der Scheune verwöhntes Maultier, das einen in seiner Gier nach Futter beinahe umrennt. Enttäuschung und Mutlosigkeit ergriffen mich. Selbst wenn ich Phoebe Chandler in den Brunnen geworfen hätte, hätte ich meine Mutter damit nicht aus dem Gefängnis befreien können. Durch einen Kinderstreich würden sich die Richter gewiss nicht in ihrer Meinung beeinflussen lassen.
Obwohl es stockfinster war, als ich nach Hause kam, war noch niemand zu Bett gegangen. Vater sah mich forschend an, stellte aber keine Fragen. Es befanden sich zwar einige angetrocknete Brotscheiben und Fleischstücke auf dem Tisch, doch ich hatte keine Kraft zum Abräumen, ließ alles einfach liegen und legte mich mit Hannah ins Bett. Ausnahmsweise war ich froh, dass sie die Ärmchen besitzergreifend um meinen Hals schlang. Stundenlang lag ich schlaflos da, während die Bilder von Mutters Verhör von Stunde zu Stunde absurder und bedrohlicher wurden. Als ich ihre Worte von der Nacht zuvor Revue passieren ließ, fragte ich mich, wie lange es wohl dauern würde, bis sie auch uns holen kamen. Dann dachte ich an Mutters Buch und die Bluttaten, die darin verzeichnet waren. Ich stellte mir vor, wie die Mädchen behaupteten, Mutter habe ihnen befohlen, im Buch des Teufels zu unterschreiben. Die ganze Nacht hindurch wachte ich immer wieder auf, glühte wie im Fieber und grübelte darüber nach, ob wohl der Gestank von brennendem Hanf und Schwefel aus dem roten Buch aufsteigen würde, das unter der Ulme vergraben war. So wurde es Juni. Nach der Aussaat beschlossen wir, dass Richard und Vater jeden Tag abwechselnd zu Fuß nach Salem gehen sollten, um Mutter etwas zu essen zu bringen, während sie dort auf ihren Prozess wartete. Zu reiten wagten sie nicht, da wir befürchteten, dass sich das Pferd auf dem weiten Weg verletzen könnte, und um die Wahrheit zu sagen, bedeutete diese Entscheidung keinen großen Unterschied, denn Vater war mit seinen langen Schritten mindestens genauso schnell. Dank einer Abkürzung durch Falls Woods im Süden betrug die einfache Strecke achtzehn Kilometer und konnte in einem Tag bewältigt werden. Manchmal lieh Robert Russell uns auch sein Pferd, sodass wir im Wagen genug Lebensmittel mitnehmen konnten, um nicht nur Mutter, sondern auch ihre Leidensgenossen zu versorgen, denn wer keine Angehörigen hatte, ging leer aus. Außerdem brachte Vater Mutter einmal wöchentlich ein sauberes Hemd anstelle des schmutzigen, das sie sieben Tage lang getragen hatte, sowie eine Salbe, denn ihre Haut war von den Eisen aufgescheuert und entzündete sich. In der ersten Woche war das schmutzige Hemd, mit dem Vater nach Hause zurückkehrte, von Läusen übersät und an den Säumen von ihren eigenen und fremden Fäkalien verkrustet. Außerdem hatte sie ihre monatliche Regel gehabt, sodass das Hemd nun einen rostbraunen Blutfleck aufwies. Ich kochte das Kleidungsstück zweimal in Lauge, um das Ungeziefer abzutöten, und weinte dabei so heftig
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