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Die Tochter der Ketzerin

Die Tochter der Ketzerin

Titel: Die Tochter der Ketzerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen Kent
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haben!«, rief sie. Nun schauten auch die anderen Mädchen zur Decke, deuteten mit dem Finger und drängten einander beiseite, um sich unter den Sitzbänken zu verstecken. »Schaut, hier sind die dreizehn Geister …«, jaulten sie. »Schaut, wie sie auf Goodwife Carrier zeigen … Sie hat in Andover dreizehn Menschen getötet …« Die Männer und Frauen im Versammlungshaus blickten alle hinauf zur Decke und strömten dann wie eine gewaltige Woge in Richtung Tür. Richard hörte, wie eine Frau neben ihm zu einer anderen sagte: »Es stimmt. Letzten Winter hat sie dreizehn Menschen mit den Pocken getötet. Ich habe gehört, sie hätte die Krankheit aus Billerica mitgebracht. Es wurde viel darüber geredet.«
    Als Mutter energisch einige Schritte auf die Mädchen zutrat, waren diese so erschrocken, dass sie schlagartig verstummten. Dann drehte Mutter sich zu den Richtern um. »Es ist eine Schande, dass Sie auf diese jungen Dinger hören, die offenbar nicht ganz bei Verstand sind«, meinte sie zu ihnen.
    Daraufhin kreischten die Mädchen nur umso lauter: »Haben Sie sie nicht gesehen? Die Geister?« Nervös rutschten die Richter auf ihren Plätzen herum und rückten ihre Stühle hin und her wie Menschen, die unter einem Baum sitzen und nicht von Vogelkot getroffen werden wollen. Einige Männer drängten sich aus dem Versammlungshaus, weil sie um ihr Leben fürchteten, und ein paar Frauen waren so schwach, dass sie gestützt werden mussten. Hände reckten sich zu den Schatten empor, die zwischen den Deckenbalken lagen, und Köpfe drehten sich auf angststarren Hälsen. Selbst Richard ertappte sich dabei, dass er die Decke nach geisterhaften Gestalten absuchte. »Sehen Sie sie wirklich nicht?«, fragte der kleingewachsene Richter Mutter beinahe flehend.
    »Sie würden mir ja ohnehin nicht glauben«, erwiderte Mutter, und in diesem Moment wusste Richard, dass der Ausgang der Verhandlung feststand.
    »Sie sieht sie doch! Sie sieht sie doch!«, zeterten die Mädchen im Chor.
    Streng wie ein Richter deutete Mutter mit dem Finger auf sie. »Ihr lügt. Ich stehe hier unschuldig vor Gericht.« Daraufhin wanden sich die Mädchen in noch heftigeren Krämpfen und zuckten so schrecklich, dass der oberste Richter den Sheriff von Salem aufforderte, die Berührungsprobe durchzuführen.
    Der Sheriff hielt Mutters Arm fest, und ein Mädchen namens Mercy Lewis trat vor. Sobald sie Mutters Arm berührte, legten sich ihre Beschwerden schlagartig. Dann ordneten die Richter an, Mutter an Händen und Füßen zu fesseln. Während man sie mit einem dicken Seil verschnürte, erzählte das Mädchen namens Mary den Richtern, Goodwife Carrier habe ihr in ihren Träumen anvertraut, sie sei schon seit vierzig Jahren eine Hexe. »Eine schöne Geschichte!«, rief Mutter bei diesen Worten, als man sie wegschleppte. »Da wäre ich erst zwei Jahre alt gewesen. Meint ihr denn, ich wäre damals auf meiner Rassel geritten?«
    Nachdem Mutter nicht mehr im Raum war, beruhigten sich die Mädchen wieder, bis man die nächste Angeklagte zum Verhör vorführte. Richard beobachtete, wie Mutter in einen anderen Karren verfrachtet wurde, um sie nach Süden zum Gefängnis von Salem zu bringen. Da das Stroh fehlte, musste sie auf den groben Brettern liegen. Doch als Richard dem Karren folgen wollte, schüttelte sie den Kopf, sodass ihm nichts anderes übrig blieb, als sich zu Fuß auf den Heimweg nach Andover zu machen. Kurz vor dem Abendessen kam er zurück, und nachdem er uns alles erzählt hatte, saßen wir wortlos da, während der Abend hereinbrach. Bevor es völlig dunkel wurde, verließ ich das Haus, ohne darauf zu achten, dass mein Vater mir nachrief. So schnell ich konnte, rannte ich zu Chandlers Gasthof. Eigentlich hatte ich vor, den Chandlers das Räucherhaus anzuzünden oder Phoebe im Schlaf alle Haare abzuschneiden, aber ich hatte weder etwas zum Feuermachen noch eine Schere. Doch als ich mich dem Hof näherte, sah ich drei Männer, die an einem kleinen Nebengebäude arbeiteten. Und zu ihnen ging, mit einem Eimer Bier und etwas Essbarem beladen, Phoebe Chandler.
    Rasch huschte ich im Schutz der Abenddämmerung über die Straße und versteckte mich zwischen den Krüppelkiefern, die den Gasthof von drei Seiten umgaben. Dort wartete ich ab, bis die Männer aufgegessen, ihre Werkzeuge zusammengepackt und sich verabschiedet hatten. Phoebe blieb allein zurück, um die Speisereste und Getränke wegzuräumen. Vermutlich hätte ich auf sie zuschleichen und ihr auf die

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