Die Tochter der Ketzerin
gleich einen König umzubringen.«
Schieffuß fiel ihm ins Wort. »Die Wahrheit wird wohl nie ans Licht kommen«, wandte er ängstlich ein. »Aber das Gerücht, dass er die Axt gegen Charles I. erhoben haben soll, klebt nun schon seit fast dreißig Jahren an ihm wie das Fell an einem Hund. Der Mann muss Zauberkräfte haben, um sich der Rechtsprechung des Königs so lange zu entziehen.«
Dickwanst spuckte in den Staub. »Zauberkräfte? Ein Henker ist immer maskiert. Wer also kann es mit Gewissheit sagen? Und wer soll ihm den Haftbefehl zustellen, falls man ihm wirklich je nachweisen kann, dass er den König getötet hat? Du vielleicht? Robert Russell, dem hier nichts entgeht, hat verbreitet, es gebe eine Geheimgesellschaft aus Mitgliedern von Cromwells alter Armee. Die Kerle sind so schamlos wie eine Titte, die aus der Bluse einer alten Hure springt. Auch hier in Andover leben welche von ihnen. Sie unterstützen einander und haben geschworen, jedes ihrer Mitglieder zu rächen, das gefangen genommen oder misshandelt wird. Laut Russell kommen sie bei Morgengrauen zum Haus des Verräters, schlagen ihm den Kopf ab, stecken ihn in einen schwarzen Sack und versenken ihn im Moor, genau wie bei Charles I. Oh, ja, ein toller Zauber, und zwar einer mit eine Eisenspitze.«
»Gütiger Gott«, entsetzte sich Schieffuß. »Genügt es denn nicht, dass wir Hexerei zu fürchten haben? Jetzt müssen wir auch noch die Türen gegen rachsüchtige Soldaten sichern.«
Dickwanst stützte den Fuß auf das Rad, wischte sich den feinen Staub von den Stiefeln und schnalzte wegen der Geschichte von Cromwells Geheimarmee mit der Zunge. Als ich Roberts Namen hörte, fragte ich mich, ob er sich vielleicht verdeckt als unsere Vogelscheuche betätigte, indem er angsteinflößende Gerüchte in die Welt setzte, um die Krähen zu vertreiben. Währenddessen fuhr Dickwanst fort: »Und was ist mit Roger Toothaker, der in seiner Zelle in Boston tot aufgefunden wurde? Laut Aussage des Wärters hatte er am Tag seines Todes Besuch von einem hochgewachsenen Mann. Der große Mann hat die Zelle betreten, kam wieder heraus, und wenige Stunden später war Dr. Toothaker mausetot, und zwar ohne dass man die kleinste Verletzung festgestellt hätte. Ich sage dir, an diesem Todesfall ist etwas faul, ganz gleich, was die Leichenschau auch ergeben haben mag.«
In diesem Moment öffneten sich die Türen des Versammlungshauses, und die durchgeschwitzten Gemeindemitglieder strömten, voller Sehnsucht nach frischer Luft, auf den Hof hinaus. Ich nützte die Gelegenheit, Hannah zu packen und unter dem Wagen hervorzukriechen. Doch als ich mich aufrichtete und umdrehte, wurde ich von dem dicken Mann entdeckt. Offenbar hatte er den Eindruck, dass wir einfach aus dem Nichts aufgetaucht waren, denn seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. Im nächsten Moment jedoch malte sich Furcht auf seinem Gesicht, denn er ahnte vermutlich, dass ich sein Gerede mitangehört hatte. Ich spürte, wie sein Blick sich in meinen Rücken bohrte, als ich zu unserem Wagen hinüberging, um auf Vater zu warten.
Auf dem Nachhauseweg waren wir alle still, denn die hasserfüllten Blicke, die uns über den Anger und die Boston Way Road entlang folgten, schlugen uns schwer aufs Gemüt. Trotz der brütenden Hitze schmiegte ich mich eng an meine Brüder und hielt Hannahs schweißnassen, schlaffen Körper fest im Arm. Dabei betrachtete ich nachdenklich meine Familie: Hier saß Richard, ein grüblerischer, launischer junger Mann. Und da war Andrew, geistesschwach geworden durch eine schwere Krankheit. Und Tom, an dem Furcht und Ungewissheit zehrten, sodass er täglich mehr von seiner Liebenswürdigkeit und Unbeschwertheit verlor. Ich kannte meine Brüder bis ins Innerste, und zwar nicht nur, weil sich ihr Wesen in ihrem alltäglichen Verhalten zeigte, sondern auch, weil es ihnen ins Gesicht geschrieben stand. Sie verbargen nichts und hatten keine Geheimnisse vor der Welt. Bis zu diesem Morgen hatte ich dem Kinderglauben angehangen, dass Absichten, Gaben und die eigene Lebensgeschichte jedem Menschen ihren Stempel aufdrücken wie die Gravur auf einem silbernen Kelch. Doch als ich Vater in seiner bäuerlichen Kleidung betrachtete, Muskeln, Knochen und Sehnen gestählt im Kampf gegen Felsen, Bäume und Erdreich, die Stirn gerunzelt vom jahrelangen Starren in die Sonne auf den Feldern, zersprang mein bisheriges Bild von ihm in Stücke. Ich dachte an Vaters alten scharlachroten Uniformrock, den nun die
Weitere Kostenlose Bücher