Die Tochter der Konkubine
und zog ein furchtbar finsteres Gesicht, wie sie es immer tat, wenn sie ein neues Problem löste - eine unbewusste Angewohnheit, die er hinreißend fand. »Das ist, was du, glaube ich, ›gesunden Menschenverstand‹ nennst«, erwiderte sie schließlich, »und den habe ich unter anderem auch deshalb, weil ich Lesen und den Umgang mit dem Abakus lernen konnte.« Immer noch blickte sie finster drein. »Es ist eine große Schande, dass Chinesinnen diese Grundlagen nicht gelehrt bekommen, sobald sie reden können. Dabei scheinen wir mit den Rätseln des Lebens viel besser umgehen zu können als chinesische Männer.«
Ben hatte ihr noch ein weiteres Geschenk gemacht - einfacher und doch wichtiger als alle anderen: ein Tagebuch, weder zu groß noch zu klein, dessen Seiten steif und weiß waren und darauf warteten, mit Gedanken und Erinnerungen eines ganzen Lebens gefüllt zu werden. Es besaß eine Schließe aus solidem Gold und einen scharlachroten Ledereinband, in den ihr Name golden eingeprägt war.
Einige ihrer Notizen waren auf Chinesisch, andere auf Englisch geschrieben. Sie hatte ihre kalligraphischen Fertigkeiten entwickelt und schmückte jeden Eintrag sorgfältig und so kunstvoll detailliert, wie sie es vermochte, mit Wasserfarben aus. In der friedlichen und stillen Atmosphäre des Pavillons, mit Yin und Yang schlafend auf den Kissen neben ihr, wählte sie jeden Gedanken mit derselben starken Vertraulichkeit, die sie mit Pai-Ling unter den Pfefferbäumen und neben dem Fluss geteilt hatte. Ohne zu wissen, wieso, war sie sicher, dass diese Seiten eines Tages von einer eigenen Tochter gelesen würden.
Je mehr Li über die Welt außerhalb der Mauern der Villa Formosa
erfuhr, umso mehr Sorgen machte sie sich. Nicht um sich selbst, sondern um den Stolz und die Würde des Mannes, den sie mehr zu lieben gelernt hatte, als Worte es ausdrücken konnten. Man musste ihr nicht sagen, dass diejenigen, die er für seine Freunde gehalten hatte, seit ihrer Heirat Abstand von ihm hielten. Die Männer darunter behandelten sie aus Respekt vor Ben höflich, konnten die Verlegenheit in ihren Augen jedoch kaum verbergen. Manche bewunderten sie eindeutig, allerdings aus völlig falschen Beweggründen. Die prachtvolle Einweihungsfeier der Villa Formosa und die Dinnerpartys, die er so verschwenderisch veranstaltet hatte, waren peinliche Misserfolge gewesen. Die westlichen Ehefrauen oder Begleiterinnen unter den Gästen fanden kein gemeinsames Gesprächsthema mit ihr, und die tai-tais seiner chinesischen Partner drückten alles, was sie zu sagen hatten, mit kalt glitzernden Augen und entweder stummer Abneigung oder offener Feindseligkeit aus.
Die Frau des Arztes, eine übergewichtige Dame, die für ihre großzügige ehrenamtliche Arbeit bekannt war, sprach eindeutig für alle, als sie sagte: »Ben ist solch ein Narr. Er hätte sie sich als Konkubine nehmen können, sogar als Mätresse, und wäre damit durchgekommen. Warum in aller Welt hat er das arme Ding heiraten müssen? Das wird er noch bereuen!«
Li bekam diese Bemerkungen und viele ähnliche mit, entweder, weil zu viele Cocktails die Zungen gelöst oder die Stimmen gehoben hatten, oder weil sie nicht wussten oder es sie nicht kümmerte, dass das »arme Ding« Englisch bemerkenswert gut beherrschte und die Bedeutung von Ausdrücken wie etwa »Scheinheiligkeit«, »Intoleranz«, »Snobismus« und »Bigotterie« nur zu gut kannte. Seit sie schwanger war, hatten keine Dinner mehr stattgefunden, und sie waren auch zu keinen gesellschaftlichen Zusammenkünften mehr eingeladen worden. Li war dankbar für die Ruhepause, und Ben schien die Gesellschaft nicht zu vermissen. Er hielt seine Arbeitstage kurz, kehrte rechtzeitig heim, um bei einem Drink im Pavillon und einem Dinner im Esszimmer die Sonne am Horizont untergehen zu sehen.
Wenn er sich ihrer Stellung in den Augen seiner Freunde und wichtigen Bekannten bewusst war, so schwieg er darüber. Auch wenn er zufrieden wirkte, erkannte Li, dass ihm aus seiner gesellschaftlichen Isolierung langfristig Probleme erwachsen konnten. Entschlossen, ihm eine tai-tai zu sein, auf die man stolz sein konnte, verdoppelte sie ihre Anstrengungen, zu denken und zu sprechen, wie andere es taten. Wenn sie sie schon nicht dazu bringen konnte, sie zu mögen, dann würde sie sie wenigstens dazu bringen, sie zu respektieren … zumindest würden sie sie nicht länger ignorieren können.
Jeden Morgen marschierte sie mit Yin und Yang durch die Ti-Yuan-Gärten
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