Die Tochter der Konkubine
Einsamkeit fand sie Stärke. Sie erinnerte sich daran, wie nass und kalt sich das Senffeld unter ihren Füßen angefühlt hatte und wie Schmetterlinge von den Ingwerblüten aufgeflattert waren, wenn sie vorbeikam. Bald konnte sie durch den Vorhang des Schmerzes in den bedufteten weißen Nebel treten, wo sie ihre Mutter sehen konnte, die der Mond silbern umhüllte. Manchmal hörte sie beim Einschlafen eine tröstende Stimme, die die Schatten zurückdrängte: Du bist nicht allein. Ah-Su ist meine Freundin und wacht über dich, wenn sie kann. Sie wird dir das Recht, alleine zu gehen, nicht nehmen. Ohne deine wertvollen Füße wirst du immer anderen gehören und nie selbstständig durchs Leben reisen.
Mein Herz schlägt mit deinem Herzen. Dein Schmerz ist mein Schmerz, und dein Glück wird immer meines sein. Wir werden die Reise zusammen unternehmen und alles teilen.
Wenngleich ihr dieser Trost nur in Gedanken und Träumen zuteilwurde, kam sie zu dem Glauben, eines Tages würde ihre Mutter die Tür öffnen und ihre Hand ergreifen. Sie würden gemeinsam weit fort von Yik-Munn und der großen Tanne laufen, die wie ein wachsamer Riese über allem aufragte.
Manchmal, wenn niemand hersah, küsste Nummer Drei Li-Xia sacht auf den Kopf oder drückte ihr mit einem verstohlenen Lächeln die Hand. Ihr Geheimnis tauschten sie miteinander wie eine wertvolle Münze, versteckt in der leicht geschlossenen Faust, kurz betrachtet und dann verschwunden, aber fest umfasst.
Ah-Su war es, die die Verbände anlegte und dabei einen Finger darunterschob, so dass sie nicht ganz so fest gebunden waren, wenn sie ihn herauszog. Währenddessen stimmte sie gleichzeitig in das ungeduldige Geplapper der anderen Frauen mit ein.
»Halt still. Du windest dich ja wie ein Wurm unter der Hacke. Eine fette Henne, die auf den Markt gebracht werden soll, könnte
nicht lauter protestieren als du. Es wird einfacher, wenn du stillhältst und ruhig bist.« Es wurde klar, dass Li-Xia bei Nummer Drei am wenigsten Theater machte. Eins und Zwei standen daneben und ließen sie allein mit der kleinen Dämonin fertig werden, bis sie nach einer Weile gar nicht mehr darauf warteten, dass sie mit dem Verbinden fertig war, ehe sie gingen. Das war ihnen alles zu lästig geworden.
Eines Tages schloss Ah-Su leise und ohne Begleitung am frühen Morgen die Schuppentür auf. Draußen lag dichter Nebel auf den Feldern, die Enten schwiegen noch, und die jungen Hähne hatten noch nicht gekräht. Sie brachte warme Ziegenmilch, ein eingelegtes hundertjähriges Ei und ein mit Schweinehackfleisch gefülltes Dampfbrötchen. Unter ihrem Arm trug sie ein Bündel aus zusammengerollten Kleidungsstücken, die mit einem Riemen zusammengehalten wurden.
»Diese Sachen gehören deiner Mutter. Bewahre sie an einem sicheren Ort. Verstecke sie gut, aber sollten sie gefunden werden, erzähl niemandem, dass ich es war, die sie dir gegeben hat, sonst darf ich nicht mehr zu dir kommen.«
Ah-Su kniete sich nieder und umfasste Li-Xias Gesicht sanft.
»Sie heißt Pai-Ling. Sie kommt aus Shanghai und ist sehr klug - eine große Gelehrte, die den Mond studiert und die Geheimnisse der Sterne zu lesen gelernt hat. Du wirst in diesem Bündel Bücher und Schriftstücke von ihr vorfinden und Zeichnungen, die sie eigenhändig angefertigt hat. Aber sie hat Lotusfüße und kann deshalb nicht zu dir kommen. Vielleicht versteckt sie sich irgendwo im Ingwerfeld; dort ist es sehr schön, es duftet gut und ist friedlich. Sie trägt ein weißes Gewand und atmet den süßen Duft der Ingwerblüten ein. Du brauchst nicht traurig zu sein.«
»Werde ich sie denn dort finden?«
Ah-Su senkte den Blick und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht. Vielleicht bleibt sie für immer dort; vielleicht besucht sie manchmal auch ihre Mutter, die Mondfrau, aber sie ist sehr tapfer und glücklich. Sie hat mir erzählt, dass du ihr so viel
wert bist wie tausend Goldstücke, und daran musst du dich immer erinnern und stark sein, so wie sie stark ist.«
»Tante Nummer Eins hat gesagt, sie sei manchmal im Geisterraum - dem Ort, wo die Ahnen sich versammeln, hinter der großen Holztür. Finde ich sie dort?«
Ah-Su lächelte traurig, legte den Arm um Li-Xia und suchte nach einer Antwort.
»Vielleicht wird sie manchmal dorthin bestellt. Es ist besser, du suchst sie nicht. Sei dir einfach bewusst, dass sie auf dich aufpasst.«
Dann war Ah-Su verschwunden, und die Tür schloss sich hinter ihr ohne ein weiteres Wort.
Li-Xia löste
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