Die Tochter der Konkubine
den Riemen, rollte die Kleidungsstücke auseinander und entdeckte darin viele Papierbögen, die zu Büchern zusammengenäht worden waren. Sie waren sorgfältig in ein Gewand aus feiner gelber Seide gewickelt. Die anderen Kleidungsstücke entfaltete sie eines nach dem anderen. Schön waren sie nicht, sondern in traurigen Farben gehalten: braun, dunkelgrün oder schwarz. Sie konnte Spuren ihrer Mutter riechen - eine flüchtige Andeutung von Rosmarinöl und Gewürzpulver. Sie vergrub ihr Gesicht in jedem Kleidungsstück und stellte sich die Haut ihrer Mutter in der Sommerhitze und in beißenden Winterwinden vor. Doch die weiche gelbe Seide in ihrer Mitte war dort eingebettet wie ein geheimes Herz, stärker und glücklicher als seine triste Umgebung, und sie roch nach Narzissen im Frühling.
Sie drückte sie an sich, bis die beruhigende Stimme sie durch die Traurigkeit hindurch aufforderte, nicht zu weinen, sondern stark zu sein und ihre Ahnen stolz zu machen. Wie zur Bestätigung der Nähe ihrer Mutter fiel etwas aus den Stofffalten und glitzerte in ihrem Schoß wie ein Juwel.
Das Fensterlicht fiel auf einen wunderschönen Handschmeichler aus Jade - milchig weiß mit orangefarbenen Streifen. Nicht größer als die kleinste Maus, war sie zur Form eines Kragenbärs geschnitzt. Jahrelanger Kontakt mit der Hand ihrer Mutter hatten ihn seidig glatt geschliffen. Es war ein Genuss, ihn zu halten.
Nach der Freude über das unerwartete Geschenk suchte sie gründlicher nach weiteren verborgenen Schätzen. Begierig, geduldig befühlte sie die Falten einer wattierten Jacke und entdeckte - darin eingenäht - etwas Hartes, Viereckiges. Sie öffnete die Nähte und holte ein kleines Buch hervor, dessen viele Seiten mit Linien und Kreisen, Strichen und Punkten, Schnörkeln und Vierecken chinesischer Schrift bedeckt waren; Reihe für Reihe, jedes Schriftzeichen so klein und vollkommen, dass es ein winziges eigenes Bild darstellte.
Noch nie hatte sie so etwas Wundervolles zu Gesicht bekommen.
Nach endlosen Tagen, die sie am durch das Fenster fallenden Licht maß, konnte Li-Xia sich die Füße reiben und aufstehen, bis das Blut wieder genügend zirkulierte, dass sie einen Schritt machen konnte, und dann noch einen und noch einen. Jede Nacht lief sie ein Stück weiter, zunächst nur eine Bettlänge, diese dann zwei - und dreimal, bis sie zehnmal darum herumgehen konnte … dann zwanzigmal … und mit großer Geduld hundertmal.
Das Bündel versteckte sie so, dass die Frauen erst lange hätten suchen müssen, um es zu finden. Doch sehr wahrscheinlich war das nicht. Sie waren jedes Mal so erpicht darauf, sie wieder zu verlassen, dass sie sich gar nicht umblickten. Dass die Füße der Fuchsfee nicht so entstellt waren, wie sie es hätten sein sollen, fiel ihnen auch nicht auf. In der Annahme, ihr Schützling sei nicht imstande zu stehen, geschweige denn zu gehen - und wenn sie kroch, wohin dann schon? -, machten sie sich nicht länger die Mühe, die Tür abzusperren.
Als Li-Xia viele Male in ihrem Zimmer herumgehen konnte, entriegelte sie die Tür, trat in die Nacht hinaus und ging so leise wie ein Fuchs in die Küche. Sie überquerte den kalten Steinboden und ging den Flur entlang, bis sie vor der großen Holztür zum Geisterraum stand. Wie sie gehört hatte, wurde er von den Göttern bewohnt, und die Ahnen hielten sich hier auf. An beiden Seiten starrte je ein furchteinflößender Türwächter auf sie herab und warnte sie davor einzutreten.
Sie sah sie nicht an, als sie in atemloser Stille den schweren Schnäpper hob und die Tür gerade so weit öffnete, um hineinschlüpfen zu können. Auf dem Altar brannte in einer Wachslache eine einzelne rote Kerze. »Ma-maa«, flüsterte sie und wartete. Als die Schatten nicht antworteten, rief sie wieder, diesmal ein bisschen lauter: »Mah-Mah … Mah-Mah … bist du hier drin?«
Eine Rauchschwade löste einen Hustenreiz aus und trübte ihren Blick. Sie rieb sich die Augen, und wie von Zauberhand erschienen in dem schwachen, roten Licht der Räucherspiralen über ihr die Götter. Zuerst entdeckte sie Kuan-Yin, die schöne Göttin der Barmherzigkeit, die die Vase des Mitleids umklammert hielt und auf einer Lotusblüte stand. Um sie herum die acht Unsterblichen, die furchtlosen Wächter ihres Reiches. Sie blickten Li-Xia mit hervorquellenden Augen und gefletschten Zähnen düster an.
Sie konnte sehen, dass sie aus Holz geschnitzt und unter vielen Schichten rußigen Staubs vielfarbig bemalt
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