Die Tochter der Konkubine
Schildkröten mit Jadepanzern und Rubinaugen!«
Kiesel erhob sich unvermittelt und schüttete Reste aus ihrer Schüssel fort. »Holzapfel, hör dir bloß nicht dieses dumme Zeug an! Ich war eine der Ersten, die für das Himmlische Haus ausgewählt wurden. Vor vielen Jahren, als ich so jung und zart war wie ihr heute. In den Wasserfällen sind keine Diamanten und auf den Lotusblättern keine Perlen. Die Fische in den Teichen sind fett und träge, und wenn sie tot sind, stinken sie wie jeder andere Fisch
auch. Ohne Wasser verdorren die Blumen, und die Bäume sind im Winter kahl.« Sie schnaubte verächtlich.
»Die Pfauen und die Nachtigallen sind Vögel wie alle anderen auch. Ihre Federn sind keinem Regenbogen gestohlen worden, und ihre Eier sind keine Edelsteine.« Sie spülte ihren Mund mit Tee aus und spuckte ihn dann wieder aus, wie sie es immer tat, wenn es Zeit war, sich wieder an die Arbeit zu machen. »Und jetzt hoch mit euch und ab in die Bäume. Holzapfel, eines Tages werde ich dir die Wahrheit über das Himmlische Haus des großen Ming-Chou erzählen … und von der Freude hinter dem purpurroten Mondtor.« Noch nie hatte Li-Xia Kleinen Kiesel so wütende Worte ausstoßen hören … und noch nie hatte sie gesehen, dass sie auch nur ein einziges Reiskorn vergeudete.
Im Laufe der Jahreszeiten - dem duftenden Frühling, dem sengenden Sommer und dem bitterkalten Winter - zog Li-Xia große Kraft aus der Nähe derjenigen, die sie Schwester nannten, während Geschichten über die Fuchsfee außerhalb des mung-cha-cha -Kreises dazu führten, dass die geheimnisvolle Holzapfel mit vorsichtigem Respekt betrachtet wurde.
Die Hügel und Weiden waren ihr zur Heimat geworden, doch Li-Xia ertappte sich oft dabei, wie sie zum Bereich der sou-hai -Schwestern blickte, der so weit von den Bambushütten, der Gegenwart der widerlichen larn-jai und dem Gestank der Tierpferche entfernt lag.
Die Spinnerei stand zwischen schattigen Tulpenbäumen und war umgeben von Blumenbeeten und einem sich dahinschlängelnden Teich, der von einer schmalen Brücke überspannt wurde. Auf der anderen Seite standen die weiß getünchten, gepflegten Häuschen der Weberinnen, mit Dächern aus roten Tonziegeln und Obst - und Gemüsebeeten.
Man konnte sehen, wie die Weberinnen am Anfang und Ende des Tages auf den Wegen entlanggingen und - Hand in Hand - die Brücke überquerten. Sie trugen denselben schwarzen tzou wie die Vorsteherin, mit einem an die Brust gehefteten weißen Taschentuch,
und hatten das Haar zu demselben festen Knoten frisiert, der von einem identischen Kamm gehalten wurde. Nur durch ihre in leuchtenden Farben gehaltenen Sonnenschirme unterschieden sie sich voneinander.
Nur selten, so hatte Li-Xia erfahren, stieg eine mui-mui zur Weberin auf. Gelegentlich wurden eine oder zwei im zwölften Jahr erwählt, um die Laterne zum Himmlischen Haus zu tragen; aber nur, wenn eine der sau-hai- Schwestern gestorben oder zu alt für die Arbeit am Webstuhl geworden war, wurden einer Auserwählten Kamm und Spiegel angeboten.
Die Weberinnen von Zehn Weiden wirkten zufrieden mit ihrer Arbeit und anmutig in ihrem Verhalten. Aus der Ferne konnte man nicht sehen, ob sie jung waren oder alt, aber in Li-Xias Augen schienen sie von Tu-ti gesegnet worden zu sein.
»Du solltest nicht so neidisch zum Gelände der sau-hai blicken, Holzapfel. Der Schein trügt.« Kiesels Stimme war seltsam kalt.
»Aber sie bewegen sich mit solcher Würde und Zielstrebigkeit.«
»Es sind keine Engel«, erwiderte Kiesel mit einem warnenden Unterton. »Ihr Lächeln und ihr freundliches Benehmen ist nur füreinander bestimmt, nicht für uns. Wenn du schon mal ein Rudel wilder Hunde dabei beobachtet hast, wie sie ein in die Enge getriebenes Tier quälen, ehe sie sich darüber hermachen, dann hast du gesehen, wie sau-hai Rache nehmen.«
Kiesel hatte ihr Tänzerinnenlächeln verloren, und es bekümmerte Li-Xia, dass sie daran Schuld war. Sie war erleichtert, als die Vorsteherin sich in den Schatten der Weiden hockte und ihr bedeutete, es ihr nachzutun. Die anderen gesellten sich ebenfalls dazu. »Wenn es dich denn so interessiert«, seufzte Kiesel, »dann werde ich es dir erzählen. Denn es ist wichtig, dass du die Wahrheit kennst.
In ihrem Dialekt bedeutet das Wort sau ›Kamm‹, und hai bedeutet ›hoch‹. Sind Kamm und Spiegel erst einmal entgegengenommen, wird das Haar ›hochgekämmt‹, zu einem Knoten geflochten und mit einem Holzkamm befestigt. Dann wird ein Eid
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