Die Tochter der Konkubine
vielleicht war er auch ein wenig älter. Wir waren Freunde, und er brachte mir viele Dinge bei. Mit drei konnte ich einen Kescher hochheben, in dem es von silbrigen Fischchen wimmelte. Ich kannte den Namen und das Versteck jedes Frosches und wusste, wo sich der weiße Kranich sein Nest baut.« Die Erinnerung daran ließ sie innehalten. »Wir haben unseren eigenen Reis angebaut und von unseren eigenen Bäumen Granatäpfel und Pampelmusen gepflückt. Unser Leben war gut, und der Fluss gab uns im Überfluss, unsere Schüsseln waren immer überreich gefüllt.«
In ihrer Stimme schwang Trauer mit. »Ein großer Sturm kam, donnerte wie zehntausend Schimmel durch die Schluchten - es heißt, es war der größte aller Stürme. Die alten Leute am Fluss hatten die Flussgötter noch nie so zornig erlebt. Die Götter ließen ihre Drachen frei und fegten die Obstbäume, unsere Ziegen und unsere Schweine wie auch den Tempel hinweg, in dem wir während der großen Flut beteten. Bis auf meinen Cousin To-Tze kamen alle aus meiner Familie um, mit vielen Tausenden anderen zusammen.«
Sie schob ihre traurigen Gedanken beiseite. »Doch die Götter hatten beschlossen, uns zu verschonen. Wir klammerten uns an einen umgestürzten Baum und wurden in den großen Tung-Ting-See geschwemmt, den Ort des Friedens und der Harmonie. Schilfrohrschneider nahmen uns auf, und so wuchs ich im Sumpfland des Sees auf, To-Tze jedoch wurde in das Kloster Buddhas Stimme gegeben, das nach der großen Glocke benannt ist, die über den ganzen See zu hören ist. Angeblich ist er ein großer Meister von
›Weißer-Kranich-Wushu‹ geworden und soll das Kloster verlassen haben, um in ganz China zu lehren. Dann soll er zurückgekehrt sein, um zum Meditieren als Einsiedler auf den wildesten Bergen des Sees zu leben und barfüßiger Arzt zu werden.« Sie schüttelte den Kopf und hob ihre Tasse. Ihre Hand ist stet , dachte Li, sie hat ein starkes Herz und weiß so viel über das Leben. Es gibt nichts, was sie nicht versteht.
»Vielleicht ist er ja immer noch dort«, schloss der Fisch. »Es ist die schönste Gegend ganz Chinas. Es ist meine huang-hah , der Ort meiner Kindheit in den Bergen Hunans. Eines Tages, wenn ich die Nadel nicht mehr einfädeln kann und meine Hände die Perlen nicht mehr finden, werde ich vielleicht dorthin zurückkehren und nach To-Tze suchen. Nirgendwohin sonst würde ich meine letzte Reise lieber machen.«
Als Fisch merkte, dass Freiheit für Li völlig ungewohnt war, nahm sie sie gern mit auf ihre Marktgänge, lehrte sie, über den Preis von am Morgen frisch geschnittenem oder ausgegrabenem Gemüse, von Fisch und von Krabben zu feilschen, die in Fässern mit Seewasser noch immer zappelten und krabbelten.
Jeden Tag entdeckten sie einen anderen verborgenen Winkel des Hafenviertels und des Labyrinths aus engen Straßen, Durchgängen und Gassen, die in das belebte und stets überbevölkerte Zentrum führten. Nur ein paar Schritte von den schönen Residenzen und modernen Läden der Praia Grande und der ständigen Brise des Schlickwatts entfernt begann das echte Macao - das Alte Viertel, in dem sich die ersten Kaufleute niedergelassen hatten und wo noch viele ihrer Familien über den ursprünglichen Läden wohnten. Fisch schien sich wie in ihrer Westentasche in den kopfsteingepflasterten Straßen auszukennen, die voll von schmalen Ladenfronten, Straßenverkäufern, Künstlern und Handwerkern jeglicher Art waren, und schlängelte sich derart energisch durch die Menschenmengen, dass Li flott ausschreiten musste, um mit ihr Schritt zu halten.
»Die Gegend hier wird Stadt der Sünde genannt, und die ist hier auch leicht zu finden. Es gibt viele Teufel - Schmuggler und Piraten, Huren, Spieler und Opiumesser -, aber es ist auch eine Stadt der Engel, wenn du weißt, wo du nach ihnen suchen musst. Viele verschiedene Götter wohnen hier.« Sie kamen an einer Straße mit geschlossenen Fensterläden vorbei, an jedem Fenster im ersten Stock hingen große, rote Laternen - eine Einladung zu exotischen Diensten aus jeder Ecke des Orients, die auf Banner aus scharlachroter Seide geschrieben waren. »Rote-Laternen-Straße, Heimat der Huren aus jeder Provinz und jenseits davon. Hier kann ein Mann für ein oder zwei Dollar eine Stunde seiner Vorstellung des Paradieses kaufen.«
Durch einen baufälligen Torbogen gelangten sie in eine weitere belebte Gasse - »die Viel-Glück-Straße, wo man ein Vermögen machen kann und das Leben mit dem Wenden einer Karte oder
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