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Die Tochter der Konkubine

Die Tochter der Konkubine

Titel: Die Tochter der Konkubine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pai Kit Fai
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geschwärzten Balken verschwand. Der Priester befühlte etliche Augenblicke die winzigen Inschriften - ließ seine empfindlichen Fingerspitzen bedächtig auf und ab gleiten, suchend, wie die Hand eines meisterlichen Musikers, der die Saiten eines guten Instrumentes stimmt, und begann dann etwas in einer Sprache zu murmeln, die Li noch nie gehört hatte. Fisch lauschte aufmerksam, nickte verständig und stellte gelegentlich eine Frage.
    Seine Stimme hob und senkte sich wie Wind, der durch die Ritzen eines Fensters bläst - tief in seinem Bauch, dann schrill wie ein verängstigtes Kind. »Das ist die Stimme des Großen Weißen Weisen«, raunte Fisch Li ins Ohr. »In Angelegenheiten des Universums und unseres Platzes darin gibt es keine höhere Autorität.« Als er verstummte und die wahrsagenden Stöckchen aufsammelte, erhob
sie sich, verbeugte sich zum Dank und zog sich dann mit Li an ihrer Seite vom Altar zurück. »Lass uns zur Straße der tausend Geschmäcker gehen und unter den Lebenden Zuckerrohrsaft trinken. Dann erzähle ich dir, was er in den Sternen gelesen hat.«
    »Erzähl’s mir gleich«, drängte Li sie, die der Besuch ausgesprochen nervös gemacht hatte.
    Nach kurzem Zögern setzte Fisch ihr übliches Lächeln auf, brachte es jedoch nicht fertig, Lis fragendem Blick zu begegnen. »Deine Zukunft ist gesichert. Der Weg ist klar. Du wirst den Gipfel deines Berges früher erreichen, als du es dir erträumst. Ohne Zweifel wirst du deine tausend Goldstücke finden.« Li war seltsam enttäuscht von der Spärlichkeit der Voraussage, doch Fisch eilte voran und hatte eindeutig vor, nicht mehr dazu zu sagen.

9. KAPITEL
    Der Laden der tausend Gedichte
    Für Li trat die Erinnerung an den Besuch in der Joss-Straße schon bald in den Hintergrund, der Schrein und sein ätherischer Wächter verblassten zu bedufteten Rauchfahnen. Als würde Fisch ihr damit beim Vergessen helfen wollen, gab sie ihr einen Silberdollar, groß und rund und schwer in der Hand.
    »Der Herr will es so«, vertraute sie ihr an. »Eine leibeigene Bedienstete bezahlt nur er, und nur er gibt derart großzügig. Nun, da du sein Vertrauen gewonnen hast, hast du ein Recht darauf.« Li hatte noch nie zuvor Geld gesehen. Als sie hörte, dass sie an jedem Monatsende wieder eine Münze bekommen würde, konnte sie es nicht glauben. »Ich habe nichts getan, um das zu verdienen. Ich habe genommen, aber nichts gegeben.«
    »Suche nie Schutz vor den Winden des Glücks, wenn sie in deine Richtung wehen.« Fisch lachte lautlos und überließ Li dann ihren Betrachtungen über das Wunder der schweren Silbermünze. Im Geiste öffneten sich ihr Horizonte, die kein Ende zu nehmen schienen. Und als würde dieses Geschenk noch nicht ausreichen, durfte sie von nun an jeden Sonntagnachmittag als ihren eigenen betrachten, den sie nach Belieben verbringen durfte.
    An diesem ersten Sonntag marschierte Li allein den Boulevard entlang, die Münze sorgfältig tief in der Tasche ihres sam-foo vergraben. Es handelte sich um einen mexikanischen Dollar, der Fisch zufolge aus reinem Silber bestand. Sie schlenderte durch die belebten Gassen der Praia und behielt - wie versprochen - das flache Blau des Ozeans immer im Blick. Akrobaten und Jongleure, Musikanten und Zauberer, alle versuchten sie ihre Aufmerksamkeit zu
wecken, doch in ihren Augen gab es nur eine Sache, die wunderbarer war als die Silbermünze.
    In einer belebten Gasse in der Nähe des Marktplatzes fand sie das Gesuchte. In einer Reihe von Kuriositäten - und Antiquitätenläden gab es einen, der nur Bücher und die faszinierenden Werkzeuge des Gelehrten verkaufte. Er war klein und urig, mit einer Türglocke, und darüber stand in verblassten goldenen Schriftzeichen DER LADEN DER TAUSEND GEDICHTE. Im Schaufenster waren Bände aller Formen, Größen und Farben ausgestellt. Glasvitrinen enthielten Pinsel, Tuschesteine und alle Arten von Papier in Rollen und Bündeln, die mit roten und goldenen Klebebändern zusammengehalten wurden. Es roch nach Tinte und Ölfarbe, altem Papier und alten Büchern, Staub und Entdeckung. Hier gab sie ihren ersten Dollar aus. Der Ladenbesitzer, dessen schöner weißer Bart und Koteletten gewiss die eines großen Gelehrten sein mussten, war über das Interesse eines so jungen Mädchens entzückt. Er ermunterte sie, seine Schätze genauer zu erforschen, und wurde nicht müde, ihre endlosen Fragen zu beantworten. Nach vielen Stunden verließ sie den Laden mit einer Tasche sowohl dicker als auch

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