Die Tochter Der Midgardschlange: Die Asgard-Saga
verlieren, die nicht die mindeste Rücksicht auf sie nahm, ganz wie sie es angekündigt hatte. Woher diese gebrechliche alte Frau die Energie nahm, Stunde um Stunde zu marschieren und scheinbar mühelos über Stock und Stein zu klettern, war ihr ein Rätsel. Irgendwann würde sie Edith einfach zwingen, ihr dieses Geheimnis zu verraten.
Natürlich nur, wenn es ihr gelang, diese Nacht zu überstehen, ohne einen Herzschlag zu bekommen.
Kurz bevor es so weit war (und vielleicht eine Stunde vor Sonnenaufgang), hielt Edith endlich an, drehte sich um und wartete, bis sie wieder ganz zu ihr aufgeschlossen hatte. Katharina konnte sich ungefähr vorstellen, was sie ihr sagen wollte, und sie wurde nicht enttäuscht.
»Die Wulfiborg liegt hinter diesem Wald«, sagte sie. »Du solltest hierbleiben. Wirklich.«
Katharina sah kurz zu dem Schatten hin, von dem Edith behauptet hatte, es wäre ein Wald. Sie sah dort nichts als vollkommene Finsternis. Stur schüttelte sie den Kopf.
»Ganz wie du willst.«
Irgendwie brachte Edith das Kunststück fertig, sich nicht herumzudrehen und weiterzugehen, sondern einfach mit den Schatten hinter sich zu verschmelzen, aber Katharina war nicht so weit gekommen, um sich jetzt von einem simplen Taschenspielertrick abschrecken zu lassen. Sie marschierte einfach in dieselbe Richtung los, orientierte sich an den Geräuschen, die Edith irgendwo in der Dunkelheit vor ihr verursachte, und nahm dabei zähneknirschend in Kauf, dass sie ein paarmal unsanft mit einem Schatten kollidierte, der zwar unsichtbar blieb, aber so hart war, wie es nur ein Baum sein konnte.
Immerhin dauerte es nicht lange.
Der Wald stellte sich eher als schmaler, wenn auch ungewöhnlich dichter Uferstreifen heraus, hinter dem sich eine erschreckend große Wasserfläche befand. Im allerersten Moment glaubte sie, am Ufer eines Sees zu stehen, doch ein rascher Blick in die Runde zeigte ihr ihren Irrtum: Der Rhein verbreiterte sich an dieser Stelle, um einer dicht bewaldeten Insel auszuweichen, sodass der Eindruck eines halbmondförmigen und sehr lang gestreckten Sees entstand. An seinem anderen Ufer und präzise gleich weit von seinen vermeintlichen Zu- und Abflüssen entfernt erhob sich ein sonderbar kantiger Umriss. Vermutlich Wulfgars Lager, denn sie entdeckte eine Vielzahl winziger roter Lichter, die scheinbar im Nichts zu schweben schienen und ihr manchmal zublinzelten, wie winzige glühende Dämonenaugen.
»Wulfgars Lager?«, fragte sie.
»Die Wulfiborg, ja«, antwortete Edith und beantwortete ihre nächste Frage gleich mit, bevor sie sie überhaupt aussprechen konnte. »Er hat es nach seinem Sohn benannt, deinem Vater. Es ist nicht wirklich eine Burg, aber es kommt ihm nahe genug, um Guthenfels’ Soldaten einen hohen Blutzoll abzuverlangen.«
»Und wie kommen wir dorthin?«
Edith deutete nach links, am Ufer entlang. »Dort hinten beginnt ein Weg. Dort kommen wir besser voran.«
»Und das weißt du, weil du ja noch nie hier warst«, vermutete Katharina.
Edith überging die Bemerkung. »Du weißt, was geschieht, wenn du zu Wulfgar gehst?«, fragte sie. »Er wird dich nicht wieder gehen lassen. Alles, was geschehen ist, wäre vollkommen umsonst gewesen.«
»Wulfgar?«, wiederholte Katharina verständnislos. »Ich … ich habe nicht vor, zu Wulfgar zu gehen.«
»Das wirst du aber, wenn du mich begleitest«, sagte Edith ruhig. »Denn ich gehe zu ihm. Wie soll ich ihn sonst warnen?«
»Aber … aber ich dachte, wir … wir schleichen uns in sein Lager«, stammelte Katharina, »und –«
»Und hinterlassen ihm eine mit Blut geschriebene Warnung an der Wand seines Thronsaales?«, unterbrach sie Edith. »Dass ich nicht selbst auf diese Idee gekommen bin! Ich werde anscheinend alt. Und wenn wir schon einmal dabei sind, dann suchen wir doch gleich noch nach deinem Bruder und befreien ihn.«
Diesen Spott hatte sie wahrscheinlich verdient, dachte Katharina. Ihre Idee war wirklich naiv gewesen … aber die beiden einzigen möglichen Alternativen, nämlich entweder tatsächlich hier zurückzubleiben oder Edith zu begleiten und sich Wulfgar freiwillig auszuliefern, kamen ihr genau so schrecklich vor.
»Aber es … es muss doch noch einen anderen Weg geben!«, sagte sie verzweifelt.
Edith schüttelte den Kopf und wollte antworten, fuhr dann aber erschrocken zusammen und machte einen so hastigen Schritt zurück, dass sie um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte und hintenüber ins Wasser gefallen wäre. Gleichzeitig
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