Die Tochter der Seidenweberin
die Gebote formulierten, desto mehr wuchs in Mertyn und Lisbeth die Überzeugung, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Endlich würden Lisbeths Wünsche in Erfüllung gehen, denn dieser Transfixbrief würde das ganze Seidamt verändern!
Und dann kam der Tag, an dem Mertyn den Entwurf dem Rat zur Besprechung vorlegen wollte. Lisbeth verabschiedete ihn an der roten Tür, als er sich am Morgen, angetan mit schwarzem Mantel und Hut, zum Rathaus begab. Vor Aufregung war ihr ganz flau im Magen, und sie beschloss, nicht sogleich in die Werkstatt zu gehen, sondern sich für einen Moment in die Küche zu setzen.
In gemütlichem Geplauder saßen die Lehrmädchen an dem großen, blank gescheuerten Tisch und ließen sich ihr Morgenmahl schmecken. Fröhliche junge Dinger waren es, die Gesichter frisch gewaschen, die Haare sorgfältig zu Zöpfen gebunden.
Lisbeth gesellte sich zu ihnen und griff, noch ganz in Gedanken, nach einem Kanten Brot. Doch sogleich legte sie ihn lustlos wieder beiseite. Sie hatte mehr Appetit auf etwas Herzhaftes. Im Keller stand ein Fass mit sauer eingelegtem Kappes. Vielleicht sollte sie sich davon einen Teller holen?
Die Mädchen ließen sich durch die Anwesenheit ihrer Lehrherrin nicht in ihrem Geschnatter stören. Allenfalls dämpften sie ihr Gelächter. Lisbeth fiel auf, dass Maria nicht mit den anderen lachte. Das rundliche Mädchen mit den rotblonden Zöpfen saß mit angespannter Miene da und warf ihr ab und an einen wachsamen Blick zu. Das war ungewöhnlich, denn sonst war sie keineswegs so zurückhaltend, dachte Lisbeth.
Kritisch blickte sie Maria in das pausbäckige Gesicht. Deren Wangen hatten mehr Farbe als gewohnt, und sie presste die Lippen zusammen. Vielleicht war sie krank, fragte Lisbeth sich. Dann bemerkte sie im lockeren Mieder des Mädchens eine Ausbuchtung, die dort nicht hingehörte. Dort, wo bald einmal eine weibliche Brust das Hemd füllen würde, war ein Höcker. Das Kind schien etwas zu verbergen.
Ruhig erhob Lisbeth sich, ging um den Tisch herum und griff dem Mädchen ohne Vorwarnung ins Hemd. Maria war zu überrascht, um zu protestieren, doch ihr Gesicht färbte sich wie von Purpur übergossen. Das Geplapper der anderen Lehrmädchen verstummte. Aller Augen richteten sich gespannt auf das, was Lisbeth aus Marias Hemd zutage förderte und nun auf den Tisch legte: zwei fette, geräucherte Schweinswürste.
Lisbeth hätte laut lachen mögen. Maria aß gern, aber dass sie so verfressen war, sich Zehrung für den Vormittag einzupacken, hätte sie nicht erwartet. Im Hause Ime Hofe war der Tisch stets reichlich gedeckt, niemand brauchte hier zu hungern.
»Hast du Sorge, bis Mittag zu verhungern?«, fragte Lisbeth und unterdrückte ein Grinsen.
Maria schwieg und starrte betreten auf die Tischplatte.
»Nun sag, was hattest du mit den Würsten vor«, drängte Lisbeth. »Du kannst es ruhig sagen. Ich werde dich nicht bestrafen.«
»Sie sind … ich wollte … sie sind für meine jüngere Base Johanna«, brachte Maria schließlich stockend hervor. »Bitte … ich wollte nicht stehlen. Es ist nur so, dass sie bei ihrer Lehrherrin kaum zu essen bekommt. Nicht so wie hier.« Maria machte eine verlegene Handbewegung, die den Korb mit Brot, den Käse und die Würste auf dem Tisch umfasste. »Hier gibt es so viel, und Johanna hat ständig Hunger …« Um Verzeihung heischend blickte sie Lisbeth an.
»Bei wem ist deine Base denn in der Lehre?«, fragte Lisbeth.
»Bei Grete Elner«, antwortete Maria, den Blick nun wieder auf den Tisch gesenkt.
Lisbeth entfuhr ein Schnauben. Das hätte sie sich denken können. Aus Erzählungen ihrer Mutter und Schwiegermutter wusste sie nur zu gut, dass die Lehrmädchen im Elnerschen Haushalt nicht ausreichend beköstigt wurden.
Unter den erstaunten Blicken ihrer Lehrtöchter griff sie entschlossen nach einem Kanten Brot und einem Stück Käse und drückte beides Maria in die Hand. »Hier, nimm ihr das auch noch mit. Und pass auf, dass die fette Grete es nicht erwischt und selbst isst!«, sagte sie aufgebracht, dann wandte sie sich abrupt ab und presste die Hand vor den Mund. Der herzhafte Duft der Schweinswürste hatte Übelkeit in ihr aufsteigen lassen.
Die Besprechung im Rat dauerte an. Eine solch wichtige Angelegenheit wollte gut bedacht und ausgiebig beredet werden. Lisbeth konnte es kaum erwarten, bis die gnädigen Herren zu einer Entscheidung gelangten. Unkonzentriert und fahrig ging sie ihrer Arbeit nach.
Auch ihr Magen schien das
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