Die Tochter der Seidenweberin
fest entschlossen, die Worte dieses Eides Buchstaben für Buchstaben getreulich zu befolgen.
»Es freut mich außerordentlich, einen Mann wie Euch als Kollegen im Rat zu begrüßen.« Die Freude von Gerhard Wesel war aufrichtig, als er Mertyn und Lisbeth später beim Umtrunk im Haus Zur Roten Tür seine Aufwartung machte. »Und wie ich Euch kenne, habt Ihr sicher bereits Pläne, Eure Zeit im Rat sinnvoll zu nutzen.« Der altgediente Ratsherr und vormalige Bürgermeister lachte.
»Es gibt so viel zu tun, so vieles, das einer Verbesserung bedarf. Ich weiß kaum, womit zu beginnen«, antwortete Mertyn ehrlich.
»Mit dem Seidamt natürlich!«, platzte Lisbeth heraus.
Mertyn runzelte die Stirn ob ihres vorlauten Betragens, doch Wesel lächelte zustimmend. »Das wäre nicht das Schlechteste. Ihr habt eine kluge Gemahlin! Eine neue Zunftordnung für die Seidmacherinnen ist überfällig. Ich selbst habe dereinst einen Bericht über das Seidamt verfasst. Wenn Ihr mögt, lasse ich Euch eine Abschrift zukommen.«
Mertyn nickte widerstrebend, doch als Gerhard von Wesel wenige Tage später seinem Angebot nachkam und den Bericht sandte, begann Mertyn ihn sogleich zu lesen.
Brütend, den Kopf in beide Hände gestützt, traf Lisbeth ihn in seinem Kontor an. »Und, was steht in dem Bericht?«, fragte sie interessiert.
»Stell dir vor, er stammt aus den Jahren 1490 und 1491 !«
Lisbeth blickte ihn fragend an. »Und?«
»Lies selbst.« Mertyn drehte das Schriftstück zu ihr herum.
Lisbeth studierte es eingehend.
Wesel hatte bereits damals genau die Missstände angeprangert, die auch heute noch das Seidamt durchzogen wie ein Geschwür. Nur dass inzwischen alles noch schlimmer geworden war.
»Das bedeutet, der Rat weiß seit« – Lisbeth rechnete nach – »seit fünfzehn Jahren schon um die Missstände, aber er hat bis heute nichts dagegen unternommen?«
»Es sieht so aus.« Mertyn nickte. »Der Rat hat zwar immer wieder Ermahnungen und einzelne Verbote ausgesprochen, doch du weißt selbst am besten, wie genau auf deren Einhaltung geachtet wird.« Bedächtig legte Mertyn die Handflächen aneinander. »Um es vorsichtig auszudrücken: Es mag Ratsherren geben, die kein Interesse daran haben, dass sich im Seidamt etwas ändert.«
»Leute wie Johann van Berchem«, stellte Lisbeth fest.
»Leute wie er«, bestätigte Mertyn. »Wenn ich mich recht entsinne, wurde Berchem bereits Mitte der Siebziger Ratsherr.«
»Mein Gott, was für ein Klüngel! Da soll sich einer wundern, wenn die Bürger schlecht auf den Rat zu sprechen sind.«
»Es ist immer noch der Amtsbrief von 1470 in Kraft. Er wurde noch im gleichen Jahr durch einen Transfixbrief, eine Ergänzung, die an den eigentlichen Brief angeheftet wurde, abgeändert. 1480 hat man eine Überarbeitung entworfen, die jedoch nie zur Gültigkeit gelangte«, rekapitulierte Mertyn sachlich. »Doch ich fürchte, auch diese Überarbeitung ist mittlerweile überholt. Gerhard von Wesel hat recht! Es ist höchste Zeit für einen neuen Transfixbrief!«
Lisbeth zog sich einen Stuhl heran und ließ sich an der Kopfseite von Mertyns Arbeitstisch nieder. »Na dann los!«, sagte sie lächelnd.
Verblüfft starrte Mertyn seine Gemahlin an. Wollte sie etwa mit ihm zusammen einen neuen Transfixbrief entwerfen? Sie als Frau?
Doch Lisbeth schien es ernst zu meinen. Sie nahm einen Bogen Papier und griff zur Feder. »Das Schlimmste ist das Verlegen der Seide«, sagte sie und schrieb es als ersten Punkt auf das Blatt. »Keine Seidmacherin soll künftig eine andere für sich im Verlag arbeiten lassen. Dabei ist der ursprüngliche Gedanke, der letztlich das Verlegen erst ermöglicht, ein guter. Denn nicht jede, die ihre Lehrzeit beendet, besitzt die Mittel, sich selbständig zu machen. Die Zulassung zum Amt kostet einen Rheinischen Gulden für Kinder von Amtsangehörigen und drei für alle anderen. Dies, dazu die Einrichtung der Werkstatt und vor allem die kostspielige Rohseide können sich nicht alle leisten. Man gestattet ihnen daher, für andere um Lohn zu weben, damit sie sich mit dem Handwerk, das sie mühsam erlernt haben, ernähren können.«
Mertyn nickte. Er musste Lisbeth recht geben: Der Verlag war bei weitem das größte Übel. In seinen Augen keimte Respekt auf. Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, sich mit ihr zu beraten. Wer wusste schließlich besser Bescheid über die unlauteren Praktiken, derer sich ihre Kolleginnen befleißigten, als sie, die selbst Seidmacherin
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