Die Tochter der Seidenweberin
schwindelig, und sie taumelte.
»Lisbeth! Lisbeth, was ist mit dir, du bist ganz blass«, rief Mertyn besorgt. Er fuhr aus dem Sessel hoch und konnte Lisbeth gerade noch auffangen, bevor ihr schwarz vor Augen wurde.
Als Lisbeth erwachte, sah sie durch das Fenster in ihrer Kammer den abnehmenden Mond. Lange konnte sie nicht geschlafen haben, denn es begann gerade erst zu dämmern, und von der Obermarspforte drang noch geschäftig der Lärm von Karren und Fuhrwerken herauf. Lisbeth fühlte sich frisch und ausgeruht und gar nicht krank. Doch warum war ihr schwindelig geworden? Sie hatte noch nie davon gehört, dass man vor Freude ohnmächtig wurde.
Energisch schob Lisbeth das Federbett beiseite. Sie verspürte einen ordentlichen Appetit und dachte sogleich an den eingelegten Kappes, der in seinem Fass im Keller ihrer harrte. Seltsam, dass sie daran solchen Gefallen fand. Gewöhnlich gehörte er nicht zu ihren Leibspeisen. Dann plötzlich verbanden sich die einzelnen Gedanken in ihrem Kopf und fügten sich wie die Bruchstücke eines zerbrochenen Topfes zu einem Ganzen. Der Kappes, die Ohnmacht.
Mit einem Ruck setzte Lisbeth sich auf und warf einen Blick zu dem eisgelben Mond in ihrem Fenster hinauf. Er sah aus, als hätte ein Riese ein gutes Stück davon abgebissen. Der Vollmond war vorübergegangen, und ihre monatliche Blutung hatte nicht eingesetzt! Über der Geschäftigkeit der vergangenen Wochen hatte sie es gar nicht bemerkt. Konnte es sein, dass sie in Umständen war?
Angestrengt versuchte sie, sich zu entsinnen, wann sie zuletzt ihre Blutung gehabt hatte. Genau konnte sie sich nicht erinnern, doch es musste schon recht lange her sein. Mit der flachen Hand schlug Lisbeth sich vor die Stirn. »Ja, wie blind bist du denn, Frau Ime Hofe!«, schalt sie sich laut.
Eine unbändige Freude durchströmte Lisbeth. Endlich! Endlich würde ihr größter Wunsch in Erfüllung gehen! Sie hätte jauchzen und tanzen können vor Glück!
Doch ihre ungetrübte Freude währte nicht lange. »Freu dich nicht zu früh«, ermahnte sie sich streng. Schon einmal hatte sie sich voreilig Hoffnung gemacht, um dann den bitteren Schmerz der Enttäuschung zu erleben.
Entschlossen erhob Lisbeth sich von ihrer Bettstatt. Sie würde erst einmal abwarten, ob sie sich nicht getäuscht hatte. Wenn sie ganz sicher wäre, dass sie gesegneten Leibes war, bliebe noch genug Zeit, sich auf ihr Kind zu freuen.
Doch die Tage vergingen, ohne dass etwas geschah. Und mit jedem Tag, der verstrich, glaubte Lisbeth ein kleines Stück mehr daran, dass ihr Traum diesmal wirklich wahr wurde.
14 . Kapitel
D as ist meine Base Johanna«, sagte Lisbeths Lehrmädchen Maria und schob ein mageres Ding auf ihre Lehrherrin zu.
Johanna knickste höflich. »Ich möchte mich für Eure Großzügigkeit bedanken«, sagte sie schüchtern, kaum dass Lisbeth ihre Worte vernehmen konnte.
»Von Herzen gern geschehen!«, erwiderte Lisbeth mit einem warmen Lächeln.
Das Mädchen war wirklich erbarmungswürdig dünn. Unter ihrem Hemd stachen spitz die Schulterknochen und Schlüsselbeine hervor. »Möchtest du nicht zum Essen bleiben?«, lud Lisbeth sie ein.
»Gern!« Das Kind strahlte, und seine Wangen glänzten vor Freude, als Maria sie mit sich in die Küche zog.
Lisbeth folgte ihnen und setzte sich zu den Mädchen an den reich gedeckten Küchentisch.
Zwinkernd stellte die Köchin einen Teller saures Kraut vor sie hin, und Lisbeth begann genüsslich zu essen. Es war eine Schande, wie Grete ihre Lehrmädchen behandelte, dachte sie verärgert. Am liebsten hätte sie Johanna aufgefordert, ihre Lehre bei ihr fortzusetzen, aber sie hatte bereits die vier erlaubten Lehrtöchter.
Vielleicht könnte Johanna zu Clairgin gehen, überlegte Lisbeth, die hatte kein Lehrmädchen. Ein Schatten legte sich über ihr Gesicht, als sie daran dachte, wie abweisend Clairgin sich seit ihrem Streit ihr gegenüber verhielt, wenn sie sich durch Zufall begegneten. Nein, Clairgin brauche ich nicht darum zu bitten, dachte Lisbeth, und sie konnte es ihr nicht einmal verdenken. Aber wenn das nächste Lehrmädchen sie verließe, würde sie Johanna sofort zu sich nehmen, beschloss sie.
»… einen schaurigen Geist mit weißem Laken gesehen. Er heulte und jaulte laut. Es war zum Grausen …« Der Satzfetzen drang ungewollt in Lisbeths Bewusstsein, und sie horchte auf.
»Die alte Mettel ist schreiend rausgerannt, auf die Straße, nur im Hemd!«, fuhr Johanna fort, ihrer Base zu erzählen. Sie
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