Die Tochter der Seidenweberin
schien ein wenig von ihrer Befangenheit abgelegt zu haben.
Lisbeth erinnerte sich, dass Apolonia ihr berichtet hatte, Mettel Elner sei verrückt geworden. Das Gespräch der Mädchen schien sich also um diese tragische Geschichte zu drehen. »Kannst du das noch einmal wiederholen«, unterbrach sie das Mädchen.
Johanna verstummte und schlug sich die Hand vor den Mund. Ängstlich blickte sie Lisbeth an. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Vielleicht durften die Mädchen bei Tisch nicht sprechen?
»Könntest du das noch einmal erzählen, ich habe den Anfang nicht mitbekommen«, wiederholte Lisbeth freundlich.
Auch die anderen Mädchen unterbrachen ihr Geplapper und schauten nun mit Spannung auf Johanna. Diese errötete bis in die Haarspitzen und senkte den Blick auf ihren Teller. Stockend begann sie zu berichten: »Also, es war, weil ich solchen Hunger hatte, dass ich vor Magenknurren nicht schlafen konnte. Die Meisterin sperrt des Nachts immer die Tür, die vom Hof in die Küche führt, zu. Und die Werkstatt liegt ja hinten im Hof. Doch ich hatte gesehen, dass sie an diesem Abend vergessen hatte, die Küchentür abzuschließen.« Johanna unterbrach sich und warf Lisbeth einen unsicheren Blick zu. Sie wusste, sie hatte etwas Unrechtes getan, und wenn sie der Frau Ime Hofe davon berichtete, würde diese es vielleicht ihrer Meisterin weitertragen.
Doch Frau Ime Hofes Züge ließen keine Verärgerung erkennen, im Gegenteil. Mitleid und Verständnis lagen darin, als sie Johanna zunickte, mit ihrer Erzählung fortzufahren.
»Ich bin also ins Haus geschlichen, um zu schauen, ob ich in der Küche etwas zu essen finde. Ich hatte schreckliche Angst, dass die Meisterin mich erwischt, aber der Hunger war einfach größer.«
Gebannt lauschten Lisbeth und die Mädchen ihrer Schilderung.
»Und da habe ich es gehört. Es war grauenvoll. Ein lautes Stöhnen und Jaulen. Und etwas rief: ›Jetzt komme ich und hole dich!‹ Immer wieder. ›Jetzt komme ich und hole dich!‹ So gruselig klang es. Vor lauter Angst bin ich unter den Tisch gekrochen. Und dann kam die alte Mettel die Treppe heruntergejagt, als sei der Leibhaftige hinter ihr her.« Johannas Augen waren schreckgeweitet, als erlebe sie die grausigen Geschehnisse der Nacht ein zweites Mal.
Die Mädchen hielten vor Spannung den Atem an.
»Und es war wirklich der Leibhaftige, der sie verfolgte!« Hastig schlug Johanna ein Kreuzzeichen.
Die Köchin und zwei der Mädchen taten es ihr gleich.
»Er hatte ein langes weißes Gewand an und polterte laut hinter ihr die Treppe herunter.«
»Und weiter?«, fragte Maria, ihre Base, atemlos.
»Die alte Mettel ist auf die Straße gestürmt. Im Hemd und ohne Schuhe. Und das bei der Kälte! ›Sie holen mich! Sie holen mich!‹, hat sie geschrien, so laut, dass alle Nachbarn zusammengelaufen sind.«
»Und dann?«
»Dann hat sich der Geist aufgelöst, und plötzlich war die Meisterin da.«
Lisbeth verzog das Gesicht.
»Die Meisterin ist auch auf die Straße gelaufen und hat versucht, die alte Mettel zu beruhigen. Doch die hat nur immer weitergeschrien und um sich geschlagen.«
»Und was hast du gemacht?« Die Mädchen vermochten die Spannung kaum zu ertragen.
Johanna schöpfte tief Luft. »Ich habe die Gelegenheit genutzt und bin ganz schnell zurück in die Werkstatt gelaufen und habe so getan, als schliefe ich.«
Für einen Augenblick saßen alle stumm vor Entsetzen da. Dann begannen die Mädchen alle zugleich durcheinanderzureden.
»Und was ist mit der alten Mettel dann geschehen?«
»Sag, wie ging es weiter?«
»Nun sag schon!«, bestürmten sie Johanna.
»Man hat sie nach Sankt Revilien gebracht, ins Geckenhaus«, antwortete Johanna. Sie schien durch das Interesse der Mädchen sicherer geworden zu sein. »Aber sie hat sich gewehrt wie wild. Dem Tönnis Wichterich hat sie die Nase gebrochen. Vier Männer haben es schließlich geschafft, sie festzuhalten, bis die Stadtwachen kamen. Aber das habe ich nicht selbst gesehen. Das hat man am nächsten Tag erzählt.«
Abermals erhob sich ein aufgeregtes Geplapper unter den Mädchen. Sie vermochten kaum zu glauben, was sie soeben gehört hatten.
Doch Lisbeth hatte etwas an Johannas Erzählung stutzig gemacht. Einen Moment gestattete sie den Mädchen noch ihre Aufregung, dann scheuchte sie sie auf. »Zeit, ins Bett zu gehen«, sagte sie bestimmt.
Als auch Johanna sich erhob, bat Lisbeth sie: »Könntest du noch einen Moment bei mir bleiben?«
Der furchtsame Ausdruck schlich sich
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