Die Tochter der Seidenweberin
für Sophies Verschwinden gewesen sein mochte: Gestern am späten Nachmittag war Jacobus, der ältere Geselle von Färber Quettinck, gekommen, um ungefärbte Seidenballen zu holen, und Lisbeth hatte gesehen, wie er Sophie ein Briefchen zugesteckt hatte.
Sie hatte nicht weiter darauf geachtet, hatte gedacht, es wäre eines der üblichen Billetts, die Sophie und der junge Godert seit längerem austauschten. Doch vielleicht hatte dieser Brief etwas anderes beinhaltet als heimliche Liebesbeteuerungen, wie sie junge Leute einander zu schreiben pflegten?
»Mathias, fahr weiter geradeaus nach Sankt Peter zu Meister Quettinck«, befahl Lisbeth.
Als sie in Quettincks Werkstatt Onder Blauverfer trat, fand Lisbeth den Färbermeister überrascht, doch erfreut über ihren Besuch. »Ich suche meine Nichte, Sophie. Ist sie womöglich hier bei Euch?«, erläuterte sie Quettinck den Grund ihres Besuches, bemüht, sich ihre Sorge um Sophie nicht allzu deutlich anmerken zu lassen.
Verdutzt blickte der Färber Lisbeth an, dann führte er sie über den Hof in die Werkstatt. Ein rascher Blick in den Raum sagte ihnen, dass auch Godert nicht bei seiner Arbeit war.
Doch anders als Lisbeth, schien Quettinck Sophies und Goderts Verschwinden nicht zu beunruhigen. Ein tragisch-mitleidvolles Lächeln huschte über die ledrige Haut seines Gesichts. »Ja, die junge Liebe«, sinnierte er. Auch ihm waren die zarten Bande nicht entgangen, die sich zwischen Lisbeths Nichte und seinem Lehrjungen gesponnen hatten.
»Ich möchte jetzt nicht in der Haut des jungen Mannes stecken«, sagte er. »Denn ich glaube, Godert hat seiner Liebsten etwas mitzuteilen, was ihr ganz und gar nicht gefallen wird.«
Verständnislos starrte Lisbeth ihren Färber an.
»Der Dachboden. Vielleicht sind sie dort oben«, erklärte dieser mit einem Schmunzeln und erbot sich, für sie dort nachzuschauen.
Doch Lisbeth winkte ab. Sie würde diese Angelegenheit selbst erledigen und ihrer Nichte gründlich den Kopf waschen, sollte sie tatsächlich dort oben sein. Energischen Schrittes stieg sie die hölzernen Treppen zum luftigen Dachboden des Färberhauses hinauf.
An Leinen, die über die ganze Längsseite des Hauses gespannt waren, hingen hier Tuche in allen Farben des Regenbogens zum Trocknen. Wie bunte Zeltdächer muteten die feuchten Bahnen an, und Lisbeth erblickte Sophie und Godert unter dem smaragdgrünen Himmel einer Seidenbahn, kaum dass sie die letzte Stufe der Stiege erklommen hatte. Zornig machte sie einen Schritt auf die beiden zu, doch das Bild, das sich ihr bot, ließ sie innehalten.
Godert war von dem schlaksigen Jüngling, der er vor Jahren noch gewesen war, zu einem hochgewachsenen jungen Mann herangereift, dem die schwere Arbeit breite Schultern und kräftige Muskeln beschert hatte. Sophie hatte ihren Kopf an seine breite Brust gelehnt, und Godert hielt sie vorsichtig mit den Armen umschlossen, als umfasse er eine zerbrechliche Kostbarkeit. Die beiden waren so ineinander versunken, dass sie Lisbeths Eintreten nicht bemerkten.
»Es ist doch nicht für lang. Ein paar Jahre nur …«, flüsterte Godert in Sophies Haar, doch laut genug, dass Lisbeth seine Worte verstehen konnte.
»Ein paar Jahre!«, stieß Sophie heftig hervor. »Bloß ein paar Jahre! Mein Vater …« Ihre Stimme schien zu bersten.
»Und dann komme ich zu dir zurück und spreche mit deinem Vater«, suchte Godert sie zu besänftigen.
Die Verzweiflung in der Stimme ihrer Nichte hatte allen Zorn in Lisbeth schwinden lassen. »Sophie«, sagte sie leise und machte einen weiteren Schritt auf die beiden zu.
Sophie und Godert fuhren ertappt auseinander.
»Frau Ime Hofe! Zürnt Eurer Nichte nicht, es ist meine Schuld. Ich …«, hob Godert sogleich zu einer Erklärung an, doch Lisbeth ließ ihn nicht weitersprechen. »Sophie, es wird Zeit, zu gehen!«, mahnte sie.
Hastig kramte Godert aus dem Beutel, der ihm vom Gürtel hing, etwas hervor, ergriff Sophies Hand und ließ es hineingleiten. Dann schloss er behutsam Sophies Finger darum. »Auf bald«, flüsterte er.
Sophie war unfähig, zu antworten.
»Sophie?«, fragte Lisbeth.
Unwillig verzog das Mädchen das Gesicht. Dann stellte es sich auf die Zehenspitzen, beugte sich vor und küsste Godert zum Abschied auf die Lippen. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich um und folgte ihrer Tante die Stiege hinab.
Erst als sich das Tor des Quettinckschen Hauses hinter ihnen geschlossen hatte, ließ Sophie ihrem Kummer freien Lauf. »Er will auf
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