Die Tochter der Seidenweberin
unterbrach Lisbeth den Überschwang ihrer Nichte. »Über eines musst du dir im Klaren sein: Ich lasse dich nur zu Quettinck, wenn du dir wirklich Mühe mit dem Haushalt gibst. Lässt du deine Aufgaben im Haus schleifen, ist es damit vorbei!« Streng blickte sie Sophie an.
Das Mädchen nickte.
Dass Sophie ihren Eltern nichts von ihrer Abmachung erzählen solle, brauchte Lisbeth nicht zu erwähnen. Ihre Nichte wusste nur zu genau, dass ihr Vater ihr verbieten würde, je wieder den Fuß in eine Färberwerkstatt zu setzen, sollte er davon erfahren.
Lisbeth ließ Mathias den Wagen anspannen, und anstatt Grete Elner zur Rede zu stellen, wie sie es beabsichtigt hatte, fuhr sie in die Wolkenburg, um wieder einmal mit ihrem Schwager die Klingen zu kreuzen.
Wie erwartet zeigte Andreas sich zunächst nicht erfreut über Lisbeths Vorschlag, doch ließ er es ihr gegenüber heute wenigstens nicht an Höflichkeit fehlen. Vielleicht hatte es ihn milde gestimmt, dass Mertyn seinen Erstgeborenen nach ihm, Andreas, genannt hatte. Vielleicht war er sich aber auch des möglichen Heiratskandidaten für Sophie noch nicht sicher, so dass er sich schließlich bereit erklärte, seine Einwilligung zu geben.
In Windeseile machte Sophie sich daran, ihr Bündel zu packen, doch bevor der Wagen mit Lisbeth und ihr vom Hof der Wolkenburg rollte, hatte sich die Dunkelheit bereits in die Gassen geschlichen. Anders als sonst zur Abendzeit, waren heute immer noch Menschen in den Gassen unterwegs. Sie strebten den Weinzapfen zu, deren grün bekränzte Schilder den Vorbeikommenden zuriefen, dass hier, dem Brauch der Martinsminne folgend, neuer Wein ausgeschenkt wurde.
Der Heilige Sankt Martin war einst dem schwedischen König Olaf Tryggwason im Traum erschienen und hatte ihn aufgefordert, fortan nicht mehr die Götter Thor, Wotan und Odin durch Trankopfer zu ehren, sondern statt der Odinsminne die Martinsminne einzuführen. Im Gedenken an den Heiligen würde es heute in den Weinzapfen bis in die späten Abendstunden fröhlich zugehen.
Auf ihrem Weg durch die dunklen Gassen begegneten Lisbeth und Sophie Gruppen von ausgelassenen Jungen, die von Haus zu Haus zogen, klopften, einen Spruch aufsagten und um Reisig für die Feuer und essbare Gaben baten. Angeführt wurden sie vom Zintmätesmännche, einem Jungen mit geschwärztem Gesicht, der auf den Schultern eines anderen ritt. In der Hand trug er einen alten Besen,
de Hex
genannt, den man später verbrennen würde. Das Zintmätesmännche hatte zwei Begleiter, die auf Stöcken große ausgehöhlte Rüben trugen, in denen Lichter brannten. Wie grausige Gespenster leuchteten sie in der Dunkelheit.
In ihre wärmenden Mäntel gehüllt, die Umschlagtücher gegen die Kälte fest um die Köpfe geschlungen, saßen Lisbeth und Sophie auf dem Wagen, und jede hing ihren eigenen Gedanken nach. Sophies ausgelassene Freude war einer schweigsamen Nachdenklichkeit gewichen.
An der Ecke zur Obermarspforte hatte man ein loderndes Martinsfeuer entzündet. Junge Burschen und Mädchen scharten sich darum, und auch Sophie blickte in die Flammen, als sie daran vorüberrollten. »Ein Jahr! Das ist lang. Aber auch so kurz«, fasste sie ihre Gedanken in Worte. Ein Jahr hatte ihr Vater ihr zugestanden, um bei Lisbeth zu lernen, wie man einen Haushalt führt. »Glaubst du, dass Godert in einem Jahr zurück ist?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Lisbeth ehrlich. »Aber was ich wohl weiß, ist, dass er bei seiner Rückkehr ein Mädchen vorfindet, das genug über das Seidfärben gelernt hat, um ihm eine große Hilfe zu sein.«
Das Abendläuten der Glocken von Groß Sankt Martin übertönte das erste Klopfen an der Tür des schäbigen Hauses Unter Seidmacher. Erst das zweite Klopfen rief Grete an die Tür.
»Einen schönen Gruß von der Frau Meisterin soll ich sagen. Sie schickt Euch dies zum Martinstage«, sagte ein junges Ding seinen Spruch auf. Mit beiden Armen umklammerte die Magd einen schweren Korb, der mit einem Tuch abgedeckt war. Diesen reichte sie Grete und verabschiedete sich mit einem Knicks.
Erstaunt nahm Grete den Korb entgegen und trug ihn ins Haus. Ein wunderbar herzhafter Duft stieg ihr in die Nase, und als sie das Tuch zurückschlug, lächelte sie eine knusprig goldbraun gebratene Gans an.
Ein freudiges Grinsen breitete sich über Gretes teigige Züge. Es gab nur eine Meisterin, die Anlass hatte, ihr eine solche Köstlichkeit zu senden: Brigitta van Berchem. Die anmaßende Seidmacherin schien also mit
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