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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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rümpfte Lisbeth die Nase.
    Mettel und Grete regten sich nicht. Starr und leblos saßen sie da.
    Entsetzt wich Lisbeth zurück, und ihr entfuhr ein Schrei. Ihrem ersten Antrieb folgend, wollte sie aus der Stube fliehen, doch dann überwand sie ihr Grauen, presste einen Zipfel ihres Umhangs auf Mund und Nase und trat einen Schritt näher.
    Die toten Frauen boten einen grotesken Anblick. Grete war auf ihrem Stuhl zusammengesackt, das Gesicht bleich und mit offenem Mund, den Kopf zur Seite gekippt. Die Haube war ihr vom Kopf gerutscht, und fettig glänzend klebten ihr die aschfarbenen Haarsträhnen im Gesicht. Ihre Arme hingen rechts und links des Körpers schlaff herab, und ihre Kleidung war voller dunkler Flecken und Speisereste.
    Mettels schwerfälliger Körper war vornübergesunken, mit dem Gesicht in einen Teller mit Essensresten. Auf dem Tisch zwischen ihnen lag auf einer Platte ein angeschnittener Braten. Eine Gans, wie Lisbeth unschwer an den noch zur Hälfte befleischten Knochen erkennen konnte, ein Martinsbraten.
    Was war hier geschehen, fragte Lisbeth sich voller Grausen. Weder an Grete noch an ihrer Mutter hatte Lisbeth zeitlebens etwas Liebenswertes finden können, doch ihr plötzlicher Tod brachte sie aus der Fassung. Kaum war sie in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Was sollte sie jetzt tun? Wen sollte sie benachrichtigen? Soweit sie wusste, besaßen die Elners keine Verwandten in der Stadt.
    In dem Moment vernahm Lisbeth Schritte im Flur, und eine untersetzte Frau in mittleren Jahren trat in die Stube.
    »Ist etwas geschehen? Ich kam gerade vorbei und habe Euch schreien hören, da bin ich …« Berta Kovelenz unterbrach sich mitten im Satz. »Nanu, Frau Ime Hofe, was macht Ihr denn hier?«
    Wortlos wies Lisbeth auf die grausige Festtafel.
    »O mein Gott!«, stieß Berta hervor. »Was ist denn hier geschehen?« Wie Lisbeth wich auch sie entsetzt zurück, als sie der toten Seidmacherinnen ansichtig wurde, und schlug hastig ein Kreuzzeichen.
    Lisbeth zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«
    Berta gewann ihre Fassung rasch wieder. Energisch schritt sie zum Fenster und öffnete den hölzernen Klappladen, dann betrachtete sie die verstorbenen Frauen mit einer Mischung aus Abscheu und Neugier. »Die Elnerschen waren ja bekannt für ihre Fresslust, aber dass sie sich in ihrer Gier einmal totfressen, hätte ich nicht geglaubt«, sagte sie.
    »Totfressen?«, fragte Lisbeth.
    »Ja, das kommt vor!«, versicherte Berta und nickte bestätigend.
    »Aber dass sie noch während ihres Mahls versterben? Und gar beide zugleich?«, gab Lisbeth zu bedenken. Das kam ihr doch reichlich unwahrscheinlich vor. Wenn sie sich den Tod jedoch nicht selbst durch übermäßiges Fressen beigebracht hatten, wenn es kein natürlicher Tod war, was war es dann?
    Grete war ein Miststück, wie sie jüngst wieder unter Beweis gestellt hatte. Doch wer hätte ihr nach dem Leben trachten sollen? Hing Gretes Tod vielleicht mit ihrer neuen Tätigkeit als Verlegerin zusammen, fragte Lisbeth sich.
    Brigitta van Berchem kam ihr in den Sinn. Sie traute Brigitta durchaus zu, Grete umzubringen. Doch warum hätte sie das tun sollen? Um sich eines Zeugen zu entledigen? Brigitta – wenn sie denn hinter Gretes Seidenkäufen steckte – hatte damit nichts Verboteneres getan, als sie auch sonst betrieb: Seide zu kaufen und im Verlag weben zu lassen. Nein, das ergab alles keinen Sinn. Auf diesen vagen Verdacht hin konnte sie Brigitta nicht beschuldigen. »Ob wir die Büttel rufen sollen?«, überlegte sie laut.
    Als hätten Lisbeths Gedanken einen Geist heraufbeschworen, trat just in dem Moment Brigitta van Berchem in die Elnersche Stube. Ihre Blicke erfassten flink die Situation, doch sie zeigte sich angesichts der grausigen Szene, die sich ihr darbot, nicht sonderlich erschrocken. Hatte die Seidmacherin gewusst, welcher Anblick sie hier erwartete, schoss es Lisbeth durch den Kopf. War ihr Verdacht doch nicht so abwegig gewesen?
    Offenbar hatte Brigitta Lisbeths letzte Worte mitbekommen, denn sie schenkte ihr ein höhnisches Lächeln. »Die Büttel holen? Blödsinn!«, schnarrte sie. »Dann könnt Ihr Euch schon einmal überlegen, wie Ihr denen erklärt, was Ihr hier zu schaffen habt!«
    Lisbeth stutzte. »Nun, ich hatte mit Grete zu reden«, erklärte sie.
    »Ach, worüber denn?« Brigitta zeigte sich interessiert.
    »Ich … ich wollte ihr Arbeit geben.«
    Brigitta maß sie mit hochgezogenen Brauen. »Was Ihr nicht sagt!«
    Sie

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