Die Tochter der Seidenweberin
Zünfte verweigerten dem Rat die erbetene Hilfe. Stattdessen verlangten sie, die Gefangenen unverzüglich freizulassen, die Geflohenen zurückzurufen und die Ratsherren, die in die Hoheit von Sankt Maria eingedrungen waren, zu bestrafen. Darüber hinaus forderten sie, dass die außerordentlichen Auflagen abgestellt und die schweren bürgerlichen Lasten vermindert werden sollten.
Seit Jahren, ja eigentlich seit den Tagen des Neusser Krieges, der den Stadtsäckel entleert zurückgelassen hatte, schwelte die Unzufriedenheit in der Stadt. Es waren die immer gleichen Vergehen, deren sich viele der Ratsherren schuldig machten: Sie wirtschafteten in die eigene Tasche, schacherten ihren Freunden und Verwandten einträgliche städtische Ämter zu, veruntreuten städtische Gelder, verhängten unverständliche Auflagen über die Bürger und erhöhten ständig die Steuern, ohne über deren Verwendung Rechenschaft abzulegen.
Doch nun hatten die Bürger die Nase voll! Es hatte nur noch dieses einen Rechtsbruches seitens des Rates bedurft, ihren Zorn zu entfesseln.
Am Morgen des vierten Januar versammelten sich sämtliche Mitglieder der Zünfte zur Beratung in der Freiheit von Sankt Maria im Capitol. Unter wütendem Toben beschlossen sie, die Erfüllung ihrer Forderungen mit Gewalt zu erzwingen.
Die Zunftgenossen bewaffneten sich und versuchten, Tore und Türme in ihre Gewalt zu bringen. Die Burggrafen von Kunibert und Severin weigerten sich zunächst, ihre Schlüssel auszuliefern, doch als man Anstalten machte, schweres Geschütz gegen sie aufzufahren, waren alsbald auch sie zum Einlenken bereit.
Eine Rotte Fassbinder und Wollweber zog in die Severinstraße vor das Haus des Ratsherrn Dietrich Spitz. Sie warfen dem Fuchs die Fenster ein, verwüsteten die Pflanzungen in seinem Garten, rissen die Pfähle an den Weinstöcken aus dem Boden, schichteten sie zu einem Haufen und verbrannten sie.
Tag und Nacht tobte der Aufruhr in der Stadt. Bewaffnete Scharen aus Handwerksburschen, Studenten, losem Volk und all jenen, die Freude am Randalieren und Krawallmachen hatten, zogen durch die Straßen. Waffengeklirr, Gebrüll und Geschrei mischten sich mit Trommelwirbeln und lauter Musik zu einer grausigen Kakophonie. Voller Schrecken verschanzten sich die braven Bürger in ihren Häusern und warteten bange, dass sich der Aufruhr lege.
Auch im Haus Zur Roten Tür hatte man die hölzernen Läden vor den Fenstern geschlossen und das Tor verbarrikadiert. In der Werkstatt ruhte die Arbeit. Lisbeth war mit dem Gesinde und den beiden Jungen allein zu Haus, und es stand nicht zu erwarten, dass die Lehrmädchen und die angestellten Weberinnen, die über die Feiertage zu ihren Familien heimgekehrt waren, zurückkamen, bevor sich die Unruhen gelegt hatten.
Angespannt wanderte Lisbeth durch die Räume des Hauses und warf alle Stunde einen Blick in die Kammer der Kinder. Die beiden Jungen fanden kaum zur Ruhe. Der kleine Peter weinte vor Angst, doch sein großer Bruder Andreas war vor Aufregung kaum zu bändigen. Voller Neugier eilte er immer wieder zu den Fenstern und bat seine Mutter darum, die Läden zu öffnen, damit er die marodierenden Scharen anschauen konnte. Er war sich der Gefahr, die von ihnen ausging, überhaupt nicht bewusst.
Lisbeth hob den kleinen Peter auf ihren Arm und schaukelte ihn sachte. Voller Unbehagen erinnerte sie sich des Tages vor nunmehr dreißig Jahren, an dem zuletzt der Pöbel durch die Stadt getobt war. An einem Karnevalstag war es gewesen. Sie selbst war damals noch ein Kind und hatte das Kostüm eines Esels getragen. Und auch sie hatte an jenem Tag vor Angst geweint. Damals hatte ihre Mutter sich um Herman gesorgt, der fortgelaufen war und draußen zwischen den Aufrührern umherirrte.
Und heute sorgte sie sich um Mertyn, der mit den anderen Ratsherren, die in der Stadt verblieben waren, in der Ratskammer hinter verschlossenen Türen auf Mittel zur Beschwichtigung des Aufruhrs sann, nur von wenigen treuen Stadtsoldaten gegen Übergriffe des Pöbels geschützt. Den Mut, zu bleiben, hatten beileibe nicht alle Ratsherren bewiesen, und so mancher von ihnen hatte sein Heil in der Flucht gesehen und die Stadt bereits auf geheimen Pfaden verlassen.
Als gegen Mittag eine Schar Bewaffneter vor dem Rathaus erschien und die Freilassung der Gefangenen forderte, wies Dietrich Spitz sie scharf zurück.
Doch van Berchem packte den Fuchs grob am Wams. »Herrgott noch einmal! Habt Ihr nicht mitbekommen, dass sich der Wind gedreht
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