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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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die steinernen Fliesen des Gotteshauses. Mitten im Jubilo erstarb der Gesang der Gemeinde.
    Der Missetäter beeilte sich, das Jesuskindlein, das aus seiner Wiege gefallen und über den Boden gerollt war, aufzuheben. Verstohlen wischte er es an seinem Messgewand sauber und bettete es zurück in seine Wiege. Als diese wieder an Ort und Stelle auf dem Altar stand, nahm die Gemeinde ihren Gesang wieder auf. Doch es schien Lisbeth, als klinge das Jubilo nicht mehr ganz so inbrünstig wie zuvor.
    Es kam Lisbeth gar nicht ungelegen, den Weihnachtsabend anstatt in der Wolkenburg im trauten Kreis ihrer Lieben zu verbringen. Bereits seit dem Morgen drang herrlicher Bratenduft aus der Küche und zog durch das ganze Haus, und als Lisbeth sich schließlich des Abends mit Mertyn und den Kindern an die festliche Tafel setzte, konnte sie es kaum erwarten, bis die saftige Rindslende serviert wurde.
    Im Kamin in der Stube loderten Buchenscheite und verbreiteten eine wohlige Wärme, und als die Familie sich mehr als satt gegessen hatte, gesellten sich auch die Köchin, die Mägde und Mathias zu ihnen, die in der Küche ihren eigenen Festschmaus gehalten hatten.
    Die Lehrmädchen und Lisbeths angestellte Weberinnen waren über die Festtage zu ihren Familien heimgekehrt, und so war es eine überschaubare Schar, die gemeinsam die frommen Lieder sang, in deren Takt Mertyn die Wiege hin und her schaukelte, der der kleine Peter gerade entwachsen war. Eine von Lisbeths alten Puppen gab, in ein Steckkissen gewickelt, das Jesuskind.
    Nachdem man sich die vom Singen rauhen Kehlen mit gutem Rotwein von der Nahe befeuchtet hatte, ging Mertyn daran, Mathias, der Köchin und den Mägden ihr Offergeld auszuteilen. Auch auf die ausgestreckte Hand des bald vierjährigen Andreas legte er einen Albus. Der Kleine strahlte und schloss ehrfürchtig die Faust um seine Münze.
    »Und, was willst du mit dem Geld machen?«, fragte Mertyn seinen Ältesten.
    Andreas legte die kleine Stirn in Falten, als überlege er angestrengt. Dann streckte er seinem Vater die Hand mit dem Geldstück hin. »Ich leihe es dir!«, sagte er.
    »Aber warum das? Ich habe doch Geld genug«, sagte Mertyn lachend.
    »Ja, aber dann bekomme ich mehr, wenn du es mir zurückgibst!«, erklärte Andreas ernsthaft.
    »Na, alle Achtung!« Mertyn schmunzelte. »Du wirst einmal ein gewitzter Kaufmann! Mit dir möchte ich keine Geschäfte machen, wenn du groß bist.«
    Lisbeth fiel in sein Lachen mit ein.
    »Nun, Frau Seidmacherin, auch für dich habe ich eine Kleinigkeit, die dir Freude bereiten soll.« Mertyn wandte sich zu Lisbeth um. »Geld brauche ich dir nicht zu geben, du verdienst selbst den ein oder anderen Gulden!«, sagte er, und mit einem zärtlichen Lächeln zog er ein Ebenholzkästchen aus dem Wams und reichte es ihr.
    Behutsam öffnete Lisbeth die Schachtel. Im matten Licht der Kerzen, die die Stube erhellten, glänzten Perlen, weiß und ebenmäßig, eine so groß wie die andere. Bewundernd strich Lisbeth mit dem Finger über das kostbare Geschmeide. Perlen bedeuten Tränen, kam es ihr in den Sinn, und wieder beschlich sie dieses Unbehagen, das sie schon in der Christmette verspürt hatte.
    Mertyn griff nach der Kette und legte Lisbeth die Perlenschnur um den Hals. Kühl und glatt wog sie schwer auf ihrer Haut.
    »Perlen sind das Sinnbild der Fruchtbarkeit«, flüsterte Mertyn und deutete mit einer Bewegung seines Kinns auf die beiden Kinder. »Die Jungen sind uns gut gelungen. Was meinst du, sollten wir es mal mit einem Mädchen versuchen?«
     
    Der Weihnachtsabend war in angenehmer Beschaulichkeit vergangen, doch wie Lisbeth befürchtet hatte, war die Stille am Weihnachtstag die berühmte Ruhe vor dem Sturm gewesen. Unter der täuschenden Decke aus pudrigem Schnee gärte und brodelte der Unmut. Bereits am Mittag des Tages nach Sankt Stephanus, dem zweiten Weihnachtstag, erreichten unheilvolle Nachrichten das Haus Zur Roten Tür und zerstörten jäh die friedvolle Stimmung: Der Streit unter den Steinmetzen war immer noch nicht beigelegt worden, und in der Nacht zuvor hatte der Rat mehrere der Unbeugsamen ergreifen und in den Turm bringen lassen.
    Die anderen Schuldigen an der Schlägerei aber waren, sobald sie davon erfahren hatten, auf die Freiheit von Sankt Maria im Capitol geflüchtet und hatten sich dort, von Freunden und ihren Weibern reichlich mit Speis und Trank versehen, eingerichtet. Auch Waffen hatten sie sich bringen lassen, um gegen einen gewaltsamen Einbruch in das

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