Die Tochter der Seidenweberin
Langsamkeit hob sich das Gitter im Bayenturm, um die armen Witwen passieren zu lassen.
22 . Kapitel
A m Tag vor Dreikönige kamen die Zünfte im Haus Quattermarkt zusammen. Ihnen war daran gelegen, dass in der Stadt Frieden und Ordnung herrschte, damit sie in Ruhe ihren Gewerken nachgehen konnten, daher wählten sie aus ihren Reihen hundertachtundsiebzig Vertrauensmänner, die eine provisorische Regierung bilden sollten. Dieser Ausschuss glaubte, er könne den Pöbel von seinen Greueltaten abhalten, wenn es ihm gelänge, den Rat dazu zu bewegen, allen Forderungen der Zünfte zuzustimmen. In Windeseile fasste er daher die Forderungen in sage und schreibe hundertdreiundfünfzig Artikeln zusammen und entsandte eine Deputation zum Rathaus, um sie den Ratsherren zu überreichen.
Doch das rauflustige Volk, das die Deputation begleitete, sah wenig Sinn in Unterhandlungen. Es schickte sich an, das Rathaus zu stürmen und die Ratsherren samt und sonders zu erschlagen. Nur mit Mühe gelang es den Zünftigen, die Horden von ihrem blutigen Ansinnen abzuhalten und dazu zu bewegen, sich auf dem Alter Markt zu versammeln.
Der Rat schickte sich in das Unvermeidliche. Voller Sorge um das eigene Leben bewilligten die gnädigen Herren, was von ihnen verlangt wurde, und binnen kurzem traten die Deputierten auf die Galerie über dem Flachshaus. Die Glocke des Ratsturms erklang, man rührte die Trommel, und voller Zufriedenheit erklärte ein Zunftmeister des Wollenamtes dem Volk auf dem Alter Markt, dass der Rat alle Forderungen erfüllen würde.
Die Menge johlte und feierte lautstark ihren Sieg. Doch die Freude währte nicht lange, und die Rechnung des Ausschusses vom Quattermarkt ging nicht auf. Denn dem Pöbel erschien dessen Vorgehen den verhassten Ratsherren gegenüber zu nachsichtig, und noch zur selben Stunde bildete sich eine Gegenregierung, die, auf die Gewalttätigkeit des gemeinen Volkes gestützt, zum Schrecken der Bürgerschaft wurde.
Die neuen Herren der Stadt ließen sich die Schlüssel der Stadttore, des Rathauses und des Ratsweinkellers aushändigen und ordneten an, dass in der Nacht vor den Häusern Laternen aufgehängt und die Straßen hell erleuchtet werden sollten – ein Befehl, der nur einen Schluss zuließ: Der Pöbel sann auf Plünderung.
Angst ergriff die Bürger, und nicht wenige schnürten ihr Bündel, rafften Geld und Gut zusammen und versuchten die Stadt zu verlassen. Doch weit kamen sie nicht, denn die Tore waren geschlossen. Nur eines zum Rhein und eines zu den Feldern hin war geöffnet, damit die Bauern ihre Lebensmittel in die Stadt bringen konnten, und niemand, der nicht einen triftigen Grund nannte, wurde hinausgelassen.
Resigniert schlüpfte Mertyn aus dem schwarzen Ratsherrenmantel, den er einst mit so viel Stolz und dem Willen, gut für die Bürger seiner Stadt zu sorgen, getragen hatte, und legte ihn beiseite. Auch den Hut, an dem ihn jedermann sogleich als Ratsherr erkennen würde, nahm er vom Kopf und verließ trotz der winterlichen Kälte nur mit Hemd und Wams bekleidet das Rathaus. Er wollte nicht riskieren, auf offener Straße vom Pöbel erschlagen zu werden.
Eilig hastete er durch die Straßen, bemüht, dem grölenden und marodierenden Pöbel aus dem Weg zu gehen, der wie trunken einhermarschierte. Etliche Karren waren umgestürzt worden und versperrten, die Räder dem Himmel zugewandt, den Weg. An der Ecke zur Obermarspforte brannte ein Feuer, und man briet auf offener Straße ein Schwein, das man aus dem Stall eines Hauses entwendet hatte.
Auch im Wams entging Mertyn nicht dem Argwohn einiger abgerissener Gestalten, die mit einem Mal vor ihm aus dem Boden wuchsen und ihn bedrohlich in die Mitte nahmen.
»Wo hast du deinen Mantel«, fragte ein fast kahler, bulliger Kerl, der sich zum Anführer des Haufens aufgeschwungen hatte.
»Der hat deinem Kollegen gut gefallen, da oben am Alter Markt«, erklärte Mertyn geistesgegenwärtig. »Also habe ich ihn ihm gegeben.«
Unschlüssig, ob er Mertyns Worten Glauben schenken sollte, starrte der Anführer Mertyn argwöhnisch an.
»Er konnte ihn hier draußen bei der Kälte gut gebrauchen«, fuhr Mertyn in betont heiterem Ton fort. Bloß nicht aufhören zu reden, dachte er. Wenn das Reden vorbei ist, wird geschlagen. »Aber das macht nichts«, fügte er hastig hinzu. »Ich habe noch einen anderen Mantel. Der ist zwar nicht so schön …«
»Schon gut«, brummte der Anführer entnervt. »Sieh zu, dass du fortkommst!«
Außer Atem, doch
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