Die Tochter der Seidenweberin
Hauses, auch den Knechten und dem Gesinde, sich in der Stube zu versammeln.
Man brachte Decken zum Schutz gegen die Kälte herbei, löschte das Feuer in den Kaminen und alle Öllichter. Weder Rauch noch ein Lichtschein sollte hinaus auf die Straßen dringen. Mertyn gestattete nur eine kleine Flamme, damit sie nicht in völliger Dunkelheit saßen.
Gegen neun Uhr begann das Toben. Verhalten zunächst, doch dann schwoll das Lärmen an und drang wie das Grollen eines riesigen wilden Tieres durch die geschlossenen Läden zu ihnen herein.
Das Rumoren kam näher, dann wurde kräftig gegen das Tor gehämmert, begleitet von wütenden Rufen. Sophies jüngere Schwestern Magdalena und Martha klammerten sich ängstlich an ihre Mutter, und der kleine Peter begann zu weinen. Hastig versuchte Lisbeth, ihn zu beruhigen.
Die Knechte wollten aufspringen und zum Tor eilen, doch Mertyn hielt sie zurück. »Verhaltet euch ruhig, vielleicht ziehen sie dann weiter. Das Tor ist aus starken Balken gefügt, und ich glaube nicht, dass sie schweres Gerät mit sich führen, mit dem sie es aufbrechen können.« In Gedanken setzte er hinzu: Solange sie nur kein Feuer legen.
Wieder und wieder erklang das Dröhnen der Schläge gegen das Tor. Die Erwachsenen saßen starr vor Angst, die Mädchen und ihr jüngster Bruder Lazarus hielten sich mit schreckweiten Augen die Ohren zu. Der kleine Andreas presste sich an seine Mutter, angestrengt bemüht, nicht in Tränen auszubrechen. Beruhigend strich Lisbeth ihm über den Rücken, während sie Peter im anderen Arm wiegte.
Sie musste versuchen, sich abzulenken. Es brachte nichts, sich auszumalen, was mit ihnen geschehen würde, wenn es dem Pöbel gelänge, das Tor aufzubrechen. »Lass uns ein Spiel spielen«, flüsterte sie ihrem Sohn ins Ohr und hielt ihm ihre Hand hin. »Wie viele Finger siehst du hier?«
Andreas schluckte, doch er ließ sich auf Lisbeths Ablenkungsversuch ein. Mit dem Zeigefinger tippte er gegen jeden einzelnen von Lisbeths ausgestreckten Fingern. »Eins – zwei – drei«, zählte er. »Drei! Das war aber einfach, Mama!«
»Scht!«, machte Lisbeth. »Das ist richtig, es sind drei Finger«, lobte sie. »Aber sag es nicht so laut. Wir müssen flüstern. Und wie viele sind es jetzt?«
Ein heftiger Schlag gegen den Klappladen vor dem Fenster der Stube ließ alle zusammenfahren. Von der Straße erklang jubelndes Grölen.
»Ein Stein. Sie haben nur einen Stein geworfen«, sagte Mertyn. »Das hilft ihnen nicht. Der richtete keinen Schaden an.«
Noch einmal donnerte ein Schlag gegen den Laden, begleitet von frenetischem Jubel, dann ebbte das Grölen ab, und auch die Schläge gegen das Tor verstummten. Die Angreifer waren weitergezogen, zu einem anderen Tor, das sich mit etwas Glück leichter überwinden ließ.
Für eine kurze Weile konnten die Bangenden in der Stube aufatmen. Doch die Ruhe währte nicht lang, bis andere Plünderer herbeidrängten. Es erschien Lisbeth, als hätte sie nie eine längere Nacht erlebt. Stunde um Stunde harrten sie aus, und wie sie all die anderen Bürger der Stadt in ihren Häusern.
Die ganze Nacht hindurch erschollen aufgeregte Rufe, donnerten Schläge gegen das Holz, doch das schwere Tor widerstand den Angriffen, bis endlich in den frühen Morgenstunden der Schwung des Pöbels erlahmte und sich das Rasen legte.
Erschöpft verließen Lisbeth und ihre Familie mit den Bewohnern der Wolkenburg die Stube, und Lisbeth und Agnes kümmerten sich darum, ein frühes Morgenmahl zu bereiten. Doch niemand verspürte rechten Appetit auf eine ausgiebige Mahlzeit. Diese fürchterliche Nacht war vorbeigegangen, doch der Schrecken war noch nicht vorüber.
Am frühen Vormittag – man saß immer noch zu Tisch, denn niemand mochte an seine Arbeit gehen – machte sich Mathias, Mertyns Kaufmannsknecht, durch Rufen am Tor bemerkbar. Er brachte schlechte Nachrichten: Die Plünderer waren ins Haus Zur Roten Tür eingedrungen. Ihm, der Köchin und den Mägden war nichts geschehen, aber die Räume im Erdgeschoss waren durchwühlt worden. Viel hatten die Plünderer nicht davongetragen, und es war nur wenig Mobiliar zerschlagen, aber die Aufrührer hatten ein fürchterliches Durcheinander hinterlassen.
Das waren jedoch nicht die schlimmsten Neuigkeiten, die Mathias brachte. Soeben war im Haus Zur Roten Tür die Nachricht eingetroffen, dass der Zunftausschuss sämtliche Ratsherren, somit auch Mertyn, in das Haus Quattermarkt befahl, damit sie sich für ihre Vergehen
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