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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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verantworteten.
    Lisbeth wich die Farbe aus dem Gesicht. »Nein«, presste sie hervor.
    Doch Mertyn schien gefasst, als er sich vom Tisch erhob. »Bring mir Mantel und Hut«, befahl er.
    »Du darfst nicht zum Quattermarkt gehen!« Lisbeths Stimme klang schrill vor Entsetzen. »Das kannst du nicht tun! Sie werden dich in den Turm bringen. Wer weiß, was sie mit dir …«
    »Ich muss gehen«, entgegnete Mertyn ruhig. »Das ist keine Einladung, das ist ein Befehl. Wenn ich nicht gehe, dann kommen sie und holen mich. Da ist es mir lieber, ich stelle mich, aufrecht und mit der Würde, die einem Ratsherrn zukommt. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, dessen ich mich schämen müsste.« Leiser fügte er hinzu: »Obwohl ich mich inzwischen dafür schäme, diesem Rat anzugehören.«
    Lisbeth wollte davon nichts hören. »Du musst fliehen!«, rief sie aufgebracht. »Es muss doch einen Weg aus der Stadt hinaus geben!«
    Mertyn schüttelte den Kopf. Behutsam legte er den Arm um Lisbeths Schultern und führte sie ein Stück vom Tisch fort. »Hör zu«, flüsterte er, »bleib vorerst hier in der Wolkenburg. Wenn mir etwas zustößt und ich nicht zurückkomme …«
    »Du musst zurückkommen!« Mit einem Schluchzen warf Lisbeth sich ihm an die Brust.
    Mertyn fasste sie an den Armen und hielt sie ein Stück von sich weg, um ihr in die Augen blicken zu können. »Hör mir zu, es ist wichtig! Wenn ich nicht zurückkehre«, wiederholte er, »bleib nur so lange wie eben nötig hier. Kümmer dich nicht um die Geschäfte, sondern nimm das Geld und deinen Schmuck und verlasse so schnell wie möglich mit den Jungen die Stadt. Geh nach Antwerpen. Sobald die Schiffe im Frühjahr wieder fahren, wird Hans Her dir helfen, von dort nach Valencia zu deiner Mutter zu reisen. Versprich mir das!«
    Lisbeth schluckte und biss sich auf die Lippe.
    »Versprich es mir!«, drängte er.
    Lisbeth nickte gehorsam.
    »Ich bin stolz, ein Weib wie dich zu haben«, flüsterte Mertyn und küsste sie sanft auf die Lippen. »Leb wohl!«
    Lisbeth presste sich an ihn und erwiderte leidenschaftlich seinen Kuss. Tränen liefen ihr über das Gesicht, und ein dicker Kloß verschloss ihr die Kehle. Sie vermochte es nicht, Mertyns Abschiedsgruß zu erwidern.
    Ein letztes Mal drückte er sie fest an sich, dann entwand er sich Lisbeths Armen und beugte sich zu dem kleinen Andreas hinab. Fest blickte er seinen Sohn an. »Sei ein gehorsamer Junge und versprich mir, dass du deiner Mutter nur Freude bereitest«, forderte er.
    Andreas verstand nicht, was das Weinen der Mutter bedeutete, doch er spürte den Ernst in den Worten seines Vaters. Seine Augen schwammen in Tränen. Ernsthaft nickte er.
    Mertyn küsste ihn zum Abschied auf den Scheitel und strich ein letztes Mal über die Wange des kleinen Peter. Gefasst grüßte er Schwager und Schwägerin und folgte Mathias hinaus.
    Lisbeth war es unmöglich, sich wieder zu den anderen an den Tisch zu setzen. Ihr war mit einem Mal schrecklich kalt. Ein heftiges Zittern ergriff sie, und sie fasste haltsuchend nach der Kante des Tisches.
    Agnes sprang herbei, um ihre Schwester zu stützen. Hastig wies sie die Mägde an, für Lisbeth einen starken Würzwein zu bereiten, dann nahm sie Lisbeths Jüngsten auf den Arm, fasste ihre Schwester um die Schultern, und, gefolgt vom kleinen Andreas, geleitete sie Lisbeth hinauf in eine der Kammern.
    Fürsorglich drängte Agnes Lisbeth auf die Bettstatt und breitete ein wärmendes Federbett über sie. Andreas kroch zu seiner Mutter unter die Decke, und Agnes legte ihr den kleinen Peter in den Arm. Vergeblich suchte sie nach Worten des Trostes für ihre Schwester. Doch was sagte man einer Frau, der das Schicksal im Begriff war, auf so grausame und ungerechte Weise den Mann zu nehmen? »Kann ich etwas für dich tun?«, fragte sie daher schlicht. Doch ihre Worte erreichten Lisbeth nicht. Mitfühlend strich sie Lisbeth über die Wange, dann überließ sie die Schwester ihrem Kummer.
    Stumm starrte Lisbeth an die getünchte Decke der Kammer. Doch ihre Augen sahen nichts als das entschlossene Gesicht ihres Mannes, als er die Stube der Wolkenburg verließ. Was würde mit ihm geschehen, fragte sie sich bang und krampfte die Hände zu Fäusten. Würde sie ihn lebend wiedersehen?
    Sie hatte wenig Vertrauen, dass der Ausschuss danach fragen würde, welcher Ratsherr sich etwas hatte zuschulden kommen lassen und welcher nicht. Viel wahrscheinlicher war es, dass er die Ratsherren samt und sonders dem

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