Die Tochter der Seidenweberin
Schwäche ausgelegt.
Lisbeth warf einen flüchtigen Blick auf Stinas Webstuhl. Der schmale Streifen gewebter Seide, der sich um den Warenbaum wand, hatte seit dem Morgen kaum an Länge zugelegt, und das Stück, das entstanden war, zeugte keinesfalls von hoher Kunstfertigkeit. Mit entnervender Umständlichkeit machte Stina Anstalten, sich auf die Bank hinter ihren Webstuhl zu zwängen.
Lisbeth packte die Wut. Ihre braunen Augen färbten sich schwarz vor Zorn. Genug war genug! Das hier war ihre Weberei. »Du brauchst dich gar nicht mehr hinzusetzen«, sagte sie und war selbst überrascht, wie ruhig ihre Stimme klang.
Lisbeths Worte ließen Stina in der Bewegung innehalten, gekrümmt wie ein Fragezeichen, ihr Mund vor Überraschung geöffnet. Plötzlich war es ganz still in der Werkstatt. Auch das Klappern, mit dem die Kammladen an die Warenbäume schlugen, war verstummt. Der pausbäckigen Rita, ihrem jüngsten Lehrmädchen, fiel vor Schreck die Schere, mit der sie Kettfäden auf die rechte Länge zugeschnitten hatte, aus der Hand und rutschte mit metallischem Scheppern über die Bodendielen.
Lisbeth wand die Finger ineinander, damit niemand bemerkte, wie ihre Hände zitterten. »Komm morgen früh in mein Kontor, damit ich dir deinen Lohn auszahle«, fuhr sie fort, als die Schere zum Liegen gekommen war.
»Aber …« Stina suchte nach Worten. Verblüfft starrte sie ihre Brotherrin an.
»Du hast gehört, was ich gesagt habe«, schnitt Lisbeth ihr das Wort ab. »Und nun geh!« Lisbeth wandte sich ab, drehte den Frauen den Rücken zu und machte sich an dem Regal zu schaffen, in dem die Rohseide gestapelt wurde. Eine Weile gab sie vor, darin Ordnung zu schaffen, doch tatsächlich rang sie mit ihrer Fassung. Sie hoffte inständig, keine der Frauen möge erkennen, wie es in ihrem Innern aussah.
Immer noch war es still in der Werkstatt, sogar das Atmen schienen die Frauen eingestellt zu haben. Einzig die kurzsichtige Gertrud, die neben Lisbeth am Regal werkelte, schien von der Angelegenheit keine Notiz zu nehmen. Verstohlen zwinkerte sie Lisbeth zu und fuhr unbeirrt damit fort, Lage um Lage der Seidenstränge auf die Regalböden zu schichten.
Dann störte ein Schnaufen die Stille. Lisbeth vernahm klappernde Schritte in hölzernen Trappen und schließlich das Klappen der Werkstatttür, die hinter Stina ins Schloss fiel.
Gertrud hatte derweil das Bündel geleert. Mit festem Schritt durchmaß sie die Werkstatt.
Als sei dies das Zeichen gewesen, auf das alle gewartet hatten, nahmen die Frauen und Mädchen ihre Arbeit wieder auf, und alsbald schallte das gewohnte Klappern der Webstühle auf den Hof hinaus. Lisbeth mochte sich täuschen, doch in ihren Ohren klang es heute emsiger als gewohnt.
Es war eine sehr kleinlaute Seidmacherin, die am nächsten Morgen in Lisbeths Kontor erschien. Inständig bat Stina die Frau Ime Hofe, weiterhin in ihren Diensten bleiben zu dürfen. Über Nacht schien ihr eingefallen zu sein, was sie an ihrer Dienstherrin hatte. Lisbeth zahlte pünktlich ihren Lohn und ließ ihre Weberinnen nicht zu schwer arbeiten.
»Mehr als zehn Jahre habe ich für die Frau Zur Roten Tür gearbeitet. Und nie hatte sie Grund zur Klage. Ihr könnt sie fragen«, beendete Stina die Aufzählung ihrer Qualitäten.
»Nun, ich habe sehr wohl Grund zur Klage«, entgegnete Lisbeth mit unbewegter Miene.
Zerknirscht blickte Stina zu Boden. »Wovon sollen wir denn leben?«, fragte sie leise. Man kannte sich im Seidamt, und Stina konnte sicher sein, dass sich der Grund für ihre Entlassung in Windeseile herumsprechen würde – beileibe keine gute Empfehlung für eine neue Anstellung.
Stina brauchte das Geld. Ihr Mann war einer von der faulen Sorte. Schnell mit dem Mundwerk, den Kopf voller hochfliegender Pläne. Doch von schönen Worten wurde niemand satt. Und wenn es ans Arbeiten ging, dann ließ sich der Herr Lommerzheim stets bitten. Die Kinder waren zwar schon erwachsen, doch während die drei Mädchen – allesamt fleißig und anstellig – verheiratet und aus dem Haus waren, wohnten die beiden Jungen zu Stinas Leidwesen immer noch bei ihr. Sie gerieten dem Vater nach, und auch sie hatten beide das Arbeiten nicht erfunden.
Stina seufzte und biss sich auf die Lippe. Sie brauchte die Arbeit bei Frau Ime Hofe. Wie sollte sie denn sonst die Familie ernähren?
»Das hättest du dir ein wenig früher überlegen müssen. Hier ist dein Lohn«, sagte Lisbeth und schob den kleinen Stapel abgezählter Münzen über den
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