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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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Lisbeth zu erfahren.
    »Du schreibst alle Geschäftsvorfälle in dein Buch, wie du es gewohnt bist.« Herman wies auf ein schlichtes zusammengenähtes Heft. »Doch dann kommt das Neue: Du überträgst alle Vorfälle in sogenannte Konten. Und zwar doppelt! Für jedes Konto malst du einen Querstrich und mittig darunter einen Längsstrich.« Herman nahm ein neues Blatt zur Hand, malte ein Konto darauf und schrieb das Wort »Ware« darüber.
    »Wird etwas mehr, dann schreibst du es auf die linke Seite. Verlierst du etwas, dann trägst du es rechts in das Konto ein.
    Zum Beispiel kaufst du Rohseide und bezahlst mit barer Münze aus dem Säckel. Dann schreibst du in dem Warenkonto links ›Kauf von Rohseide‹, denn die ist mehr geworden, und den Betrag, den du dafür gezahlt hast, zum Beispiel zweihundertfünfzig Gulden.« Während Herman sprach, nahm er den entsprechenden Eintrag vor. Dann malte er daneben ein zweites Konto mit dem Titel »Kasse«. »Das Geld wird weniger in der Kasse, also trägst du es im Konto ›Kasse‹ rechts ein. Und zwar wieder mit dem Vermerk, dass du dafür Rohseide gekauft hast.
    Du hast also diesen einen Vorgang doppelt aufgeschrieben, einmal bei Ware, einmal bei der Kasse. Du kannst immer sehen, wo dein Geld herkommt und wo es hingeht: es kommt aus der Kasse und fließt in die Rohseide.
    So machst du es mit allen Geschäftsvorfällen. Und am Ende vergleichst du die rechten und die linken Seiten. Wenn die Beträge auf der linken Seite größer sind, hast du etwas hinzugewonnen, wenn die Beträge auf der rechten Seite überwiegen, hast du verloren.
    Ich gebe euch noch ein Beispiel, ein schwierigeres: Du nimmst die Rohseide im Wert von zweihundertfünfzig Gulden und verwebst sie zu Stoff. Wie schreibst du das auf?«
    »Das schreibe ich gar nicht auf. Das ist doch meine normale Arbeit.«
    »Aber dennoch ist es ein Geschäftsvorfall«, widersprach Herman. »Versuch es doch einfach mal!«
    Lisbeth zog das Blatt zu sich heran. »Ich nehme Seide. Die wird weniger …«, begann sie. »Also schreibe ich sie hierhin.« Sie deutete auf die rechte Seite des Warenkontos.
    »Und fertige Ware wird mehr«, ergänzte Stephan.
    Herman nickte zustimmend. »Aber wie viel ist sie wert? Weit mehr als die zweihundertfünfzig Gulden, will ich meinen.«
    Lisbeth nickte verblüfft.
    »Genau! Das ist es!«, rief Stephan begeistert. »Wenn man es zusammenzählt, wird es rechts um einiges mehr.«
    »Und genau das ist dein Gewinn!«
    Während der nächsten Stunde fuhr Herman fort, Lisbeth und Stephan in die Geheimnisse der neuen Art, die Bücher zu führen, einzuweihen.
    Und nachdem Stephan ihren Becher zum wiederholten Male aufgefüllt hatte, setzte Lisbeth sich in ihrem Sessel zurück. »Das Prinzip, wie man es macht, habe ich verstanden. Doch was mir immer noch nicht ganz einleuchtet, ist, wozu das Ganze gut sein soll.«
    »Kontrolle«, antwortete Herman. »Du hast jederzeit einen guten Überblick über alle Ausgaben und Einnahmen. Siehst, welche Geschäfte nutzbringend waren und welche nicht, bemerkst, wenn etwas fehlt …«
    Stephans Stirn umwölkte sich. Seine anfängliche Begeisterung schien verflogen. »Das ganze Aufschreiben kostet eine Menge Zeit«, sagte er gedehnt. »Und die bringt man meiner Meinung nach besser damit zu, das Geld zu verdienen.«
    Lisbeth teilte seine Auffassung nicht. Auch wenn es zu Beginn sicher eine Umstellung für sie bedeutete und mit erhöhtem Aufwand verbunden war, so mochte doch auf lange Sicht der Nutzen überwiegen. Sie würde sofort damit beginnen, ihre Bücher auf die neue Weise zu führen, beschloss Lisbeth.
    Sie betrachtete ihren Bruder mit neuem Respekt. Das Reisen schien aus ihm endlich einen umsichtigen Kaufmann gemacht zu haben, einen, der wusste, was er wollte. Fygen würde seine Hilfe im Geschäft sicherlich zu schätzen wissen.
    Es war schön, dass Herman heimgekehrt war. Vielleicht würde er mit den Jahren sogar die Lücke schließen, die Peters Tod gerissen hatte? Gerade jetzt, wo ihre Mutter auf Reisen war, kam Lisbeth der Verlust des Vaters besonders schwer an, und sie hoffte inständig, dass Herman nun für immer blieb. Vielleicht hatte er ja auch inzwischen die Schwäche abgelegt, bei der ersten Schwierigkeit, die sich ihm stellte, Reißaus zu nehmen? Es war an der Zeit, dass Herman heiratete und sesshaft wurde, fand Lisbeth. Die Wolkenburg konnte durchaus wieder Kinderlachen vertragen.
    Natürlich: Clairgin, kam es ihr in den Sinn. Dass sie nicht eher darauf

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