Die Tochter der Seidenweberin
zurecht, bis dein Kind auf der Welt ist. Und dann suchst du dir eine Arbeit«, sagte sie und reichte es dem Mädchen.
Filomena blickte ungläubig zunächst auf die Münze, dann auf Fygen. Hastig wischte sie sich die Tränen vom Gesicht, und mit einem letzten Aufschluchzen schloss sie ihre Hand um die Münze.
Endlich war es geschafft, dachte Lisbeth glücklich, als sie auf die Straße hinaustrat. Seit gestern saßen die Weberinnen wieder vor ihren aufgescherten Webstühlen.
Das Durcheinander hatte eine Ordnung erhalten: Man hatte die gesamte Habe der Ime Hofe samt Betten, Töpfen, Kisten und Kästen im Haus Zur Roten Tür untergebracht. Mertyn war mit seinen Geschäftsbüchern in das alte Kontor gezogen, das sein Vater einst benutzt hatte, in der Werkstatt war man zusammengerückt, damit Lisbeths Webstühle Platz fanden, und ihre Lehrmädchen waren zu denen von Katryn unter das Dach des Hauses gezogen.
Katryn hatte ihre Ankündigung wahr gemacht und war am Morgen nicht in der Werkstatt erschienen. Stattdessen hatte ihre Schwiegermutter sich nach der Morgensuppe in stillem Vergnügen in der behaglichen Stube neben ihrer Kammer an den Webstuhl gesetzt, den Lisbeth ihr dort hatte hinaufbringen lassen.
Für einen Moment wandte Lisbeth ihr Gesicht der Frühlingssonne zu und genoss die Wärme auf der Haut. Nach all dem Räumen war es an der Zeit, es sich ein wenig gutgehen zu lassen und zu feiern. Und das war auch der Grund, warum sie es sich nicht hatte nehmen lassen, selbst in die Wolkenburg zu gehen, um Herman und Stephan zum Maiumtrunk der Familie ins Haus Zur Roten Tür einzuladen, obwohl der Arbeit eigentlich kein Ende war.
Lisbeth traf Stephan im Kontor an. Er hatte sich auf Fygens Sessel niedergelassen, den dunklen Schopf in beide Hände gestützt. Unverwandt starrte er auf einen großen Bogen Papier, der vor ihm auf dem Arbeitstisch lag. Bei ihrem Eintreten bedachte er das Blatt mit einer betont gequälten Grimasse. Dann hob er erfreut den Kopf und blitzte Lisbeth strahlend an.
Im selben Moment erschien Herman in der Tür. Herzlich umarmte er seine Schwester, bevor er zu dem Platz hinter dem Arbeitstisch ging, den Stephan mit einem unmerklichen Zögern räumte.
Neugierig warf Lisbeth einen Blick auf das große Blatt. Wenige Worte standen darauf, doch viele Zahlen, in Blöcken untereinandergeschrieben. »Was ist das?«, fragte sie, während Stephan ihr einen Becher verdünnten Wein reichte.
Herman wies auf einen Stuhl dem Tisch gegenüber, und ein jungenhaftes Lächeln umspielte seine Lippen. »Gib mir bitte auch einen Becher«, sagte er zu Stephan, ohne den Kopf zu wenden.
Lisbeth ließ sich nieder, und ohne direkt auf ihre Frage einzugehen, fragte Herman im Plauderton: »Wie gehen die Geschäfte?«
»Gut«, antwortete Lisbeth.
»Woher weißt du das?« Hermans Lächeln wurde breiter.
Irritiert blickte Lisbeth ihren Bruder an. »Nun, ich habe ein hübsches Sümmchen in die Truhe gelegt, einen Satz Silberbecher für die Tafel angeschafft …«
Herman nickte. »Aber hast du mehr verdient als im Jahr davor?«
Lisbeth hob die Schultern und krauste die Stirn. »Vielleicht. Ja, schon. Das heißt …« Sie verstummte. Dann schüttelte sie den Kopf. Sie wusste es nicht zu sagen. »Aber wozu soll ich das wissen wollen?«
»Um herauszufinden, wie du noch mehr verdienen kannst!«
Nun blickte auch Stephan Herman gespannt an.
»Und das geht mit diesem großen Blatt?«, schloss Lisbeth.
Herman nickte. »Es ist eine ganz neue Art, die Geschäftsbücher zu führen«, erklärte er begeistert. »Man nennt sie die Venezianische Methode. An den italienischen Schulen für Kaufleute wird sie jetzt gelehrt. Alberto wendet sie schon an, und er hat mir erklärt, wie es geht.«
»Und, wie geht es?«
»Stell dir vor, du gibst zweihundertfünfzig Gulden für Rohseide aus. Bist du danach ärmer oder reicher?«
»Ärmer!«, sagte Lisbeth. »Ich habe ja das Geld ausgegeben.«
»Ärmer«, meinte auch Stephan.
»Und genau so steht es auch da, wenn du es wie bisher in dein Geschäftsbuch schreibst. Das Geld ist weg – du bist ärmer.« Hier machte Herman eine bedeutsame Pause, um dann fortzufahren: »Aber stimmt das denn? Du hast ja die Seide. Die ist doch genauso viel wert«, gab er zu bedenken.
Lisbeth und Stephan sahen sich an. »Also bin ich genauso reich wie vorher«, stellte Lisbeth fest.
Herman nickte. »Aber in den Büchern steht es anders.«
»Und wie verzeichnet man es richtig in den Büchern?«, drängte
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