Die Tochter der Seidenweberin
Lehrmädchen entlassen, überlegte Clairgin. Es war rege und anstellig, und sicher wäre es ein Leichtes für das Mädchen, eine neue Lehrherrin zu finden. Sie würde es vermissen, doch dann hatte sie nur noch für sich und ihre Töchter zu sorgen. Susanna, ihre älteste Tochter, war vor wenigen Wochen fünf Jahre alt geworden und ein ruhiges, verständiges Kind. Vielleicht würde sie ihr ein wenig zur Hand gehen können. Sie musste halt sehen, wie es weiterging.
Die Ungerechtigkeit der Strafe, die man ihr auferlegt hatte, das Messen mit zweierlei Maß, wie es mittlerweile im Seidamt zur Gepflogenheit geworden war, ärgerten Clairgin ungemein. Doch schwerer noch wog die Enttäuschung über Lisbeths Reaktion. Clairgin hatte immer gedacht, Lisbeth sei ihre Freundin, aber sie schien sich geirrt zu haben. Lisbeth und sie kamen aus verschiedenen Welten. Und eine Frau Ime Hofe, für die Geld noch nie eine Rolle gespielt hatte, konnte die Dinge wohl nur aus ihrer Sicht betrachten: von oben herab. Die Enttäuschung trieb Clairgin Tränen des Zorns in die Augen.
»Womit hat denn dieser wundervolle Frühlingsabend Euren Zorn verdient?«
»Bitte?« Clairgin blickte auf. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass ihre Schritte sie auf den Alter Markt geführt hatten. Die Händler hatten für diesen Tag ihre Stände abgebaut und die Laden ihrer Geschäfte hochgeklappt. Der Rathausturm warf seinen langen Schatten auf das Pflaster, und die Abendsonne spiegelte sich in den Fenstern der schmalen Häuser auf der Ostseite des Platzes.
Der Mann, der lächelnd am Türrahmen des Goldenen Krützchens lehnte, wiederholte seine Frage, und erst jetzt erkannte Clairgin Rudolf van Bensberg.
Hastig wischte sie die Tränen aus dem Gesicht, und ehe sie sichs versah, hatte Rudolf sie in die fast leere Schankstube geführt. Nur wenige frühe Zecher standen um diese Zeit am Schanktisch. Es waren die stets unentwegten, die bereits ab Mittag ihr Geld in den Weinzapf trugen.
Ohne ihrem Widerspruch Beachtung zu schenken, nötigte Rudolf Clairgin an einen Tisch. Auf seinen Wink hin eilte eine junge Frau herbei, die dem Ruf gerecht wurde, das Krützchen habe die hübschesten Schankmädchen der Stadt. Lasziv wiegte sich die Schankmagd in den Hüften, als sie zwei gefüllte Becher auf den Tisch stellte, und bedachte Clairgin mit misstrauischem Blick.
Clairgin ergriff ihren Becher, drehte ihn in den Händen, und Rudolf wartete ruhig ab, bis sie einen tiefen Schluck genommen hatte. Dann sagte er sanft: »Nun erzählt.«
Mehr als dieses sachten Anstoßes bedurfte es nicht, und stockend zunächst, dann immer leidenschaftlicher, bahnten sich Clairgins Enttäuschung, ihre Wut und nicht zuletzt ihre Sorge einen Weg. Unterbrochen von Schluchzern, berichtete sie Rudolf, was gerade im Hause der Van der Sars geschehen und wie es zu ihrem Streit mit Lisbeth gekommen war.
Es tat Clairgin gut, sich den Ärger von der Seele zu reden. Und in Rudolf hatte sie einen aufmerksamen Zuhörer gefunden, der sie nur gelegentlich mit einer Frage unterbrach.
»Ja«, stimmte er schließlich zu, als sie geendet hatte, und nickte bedächtig. »Es ist vieles anders geworden im Seidamt. Und nicht zum Besseren: der Verlag, die Beginen, die Entlohnung mit Stoffen statt mit Geld … Aber es ist sehr schwer, etwas dagegen zu unternehmen. Manche der Damen haben Verwandte mit großem Einfluss im Rat.«
»Woher wisst Ihr so viel über die Seidmacherzunft?«, fragte Clairgin erstaunt.
»Ich habe einmal eine Seidenweberin geliebt«, antwortete er leise, und Clairgin entsann sich des Neujahrsfestes in der Wolkenburg, als er sich haltlos betrunken hatte, weil Fygen ihm eröffnet hatte, sie reise nach Valencia. Wie schmerzlich musste es für ihn gewesen sein, zu erfahren, dass seine alte Liebe doch wieder geheiratet hatte – den Halbbruder ihres verstorbenen Mannes.
»Danke!«, sagte sie, und lächelte Rudolf an.
»Wofür?«
»Fürs Zuhören.«
»Doch dafür nicht«, entgegnete Rudolf und erwiderte ihr Lächeln mit einem Zwinkern.
Beim Schrei des ersten Hahnes schlug Lisbeth entschlossen ihr Federbett zurück. Die Scham hatte sie bis spät in die Nacht keine Ruhe finden lassen. Sobald sie die Augen schloss, sah sie Clairgins vorwurfsvollen Blick auf sich gerichtet.
Sie verstand nun auch, warum die Freundin so stoisch auf die Bestrafung reagiert hatte. Clairgin hatte nicht leichtfertig gehandelt. Sie war das Risiko, erwischt zu werden, in vollem Bewusstsein eingegangen, einfach weil sie
Weitere Kostenlose Bücher