Die Tochter der Seidenweberin
eingesetzt, dass es den weniger begüterten Seidmacherinnen gestattet würde, halbseidenen Parger herzustellen?
Mit einem Ruck zog Lisbeth die Kammlade zu sich heran und blickte missbilligend auf das Gewebe. Der Faden hatte sich nicht perfekt an den vorherigen geschmiegt. Sie war nicht mehr recht in Übung. Energisch zog sie die Lade noch einmal nach. Wieder trat Lisbeth das Pedal, und die Kettfäden hoben sich um zwei Fäden versetzt. Sie schob das Schiffchen durch das Fach und zog den Kamm an – schon besser.
Faden um Faden webte sie, und eine nach der anderen wandten sich die Weberinnen und Lehrmädchen wieder ihrer Arbeit zu.
Lisbeths Bewegungen wurden immer sicherer, und mit jedem Faden, den das Gewebe an Breite gewann, lichtete sich der Zorn, der sie wie eine dunkle Wolke umhüllte. Es stimmte, dass mehr und mehr der ärmeren Seidmacherinnen für die reichen Seidmacherinnen im Verlag webten, musste sie widerwillig zugeben. Auch für sie. Und die Frauen taten es sicher nicht aus Spaß, sondern weil sie sich die Rohseide nicht mehr leisten konnten. Heftiger als nötig zog Lisbeth die Kammlade zu sich heran.
Doch anders als die angestellten Weberinnen, die keinerlei Kosten hatten, sondern in den Werkstätten ihrer Dienstherrinnen arbeiteten, trugen die für eine Verlegerin arbeitenden Seidmacherinnen das ganze Risiko einer selbständigen Meisterin: Sie mussten für den Unterhalt ihrer Lehrtöchter aufkommen, sie nähren und kleiden, gleich, ob diese fleißig oder faul, gesund oder krank waren, und hatten dafür Sorge zu tragen, dass ihre Webstühle und alles andere benötigte Arbeitsgerät einsatzbereit war. Und für all diese Mühe erhielten sie nur den gewöhnlichen Weblohn, nicht aber den Gewinn aus dem Verkauf des fertigen Stoffes. Gerecht war das sicher nicht!
Mitten in der Bewegung hielt Lisbeth inne, das Schiffchen lose in der Rechten. War sie so mit sich und ihrer eigenen Weberei beschäftigt gewesen, dass sie nicht gemerkt hatte, was um sie herum geschah? Tatsächlich hatte sie nur an sich gedacht, an ihre eigene Weberei und deren Fortkommen, hatte die Zunftregeln übertreten, wenn es ihr zuträglich war. Unbewusst kratzte sie mit dem Fingernagel über das Holz des Schiffchens.
Sie ließ Zunftgenossinnen im Verlag arbeiten. Sie beschäftigte mehr Lehrmädchen, die den anderen fehlten, um mehr Seide verarbeiten zu können, die den anderen fehlte, um Geld zu verdienen – noch mehr Geld –, das andere bitter nötig zum Leben brauchten! Daran, dass dies anderen Seidmacherinnen zu Schaden gereichte, hatte sie nicht gedacht.
Betroffen biss Lisbeth sich auf die Lippe. Seit dem Jahr 1437 , als die kölnischen Seidenweberinnen auf eigenen Antrag hin vom Rat der Stadt ihren ersten Amtsbrief erhalten hatten, sicherten die Zunftgesetze ihr aller Auskommen. Sie schützten sie gegen auswärtige Konkurrenz und erhielten den guten Ruf ihrer Waren, indem sie ihre Mitglieder zu bester Qualität verpflichteten.
Die Nachfrage nach kölnischen Seidenstoffen war groß genug, dass alle Seidmacherinnen ausreichend Arbeit hatten, dessen war Lisbeth sich sicher. Das zeigte sich schließlich Jahr für Jahr auf den Messen in Frankfurt und Antwerpen. Weder sie selbst noch die Berchem-Schwestern, Mechthild van der Sar, Katharina Loubach oder Frieda Medman, keine von den reichen Seidmacherinnen würde Mangel leiden, keine äße eine Schinkenseite weniger, wenn sie auch den anderen ihr Auskommen ließe. Clairgin hatte recht mit ihren Vorwürfen. Es war reine Habgier!
Entsetzt ließ Lisbeth das Schiffchen fahren und schlug die Hände vors Gesicht. Sie hatte das alles nicht mit Absicht betrieben. Doch sie hatte es geschehen lassen. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so geschämt! Und in ihrer Selbstgerechtigkeit hatte sie auch noch gedacht, sie hätte keine Schuld auf sich geladen! War Hoffart denn keine Todsünde?
Auch Clairgin war nach ihrem Streit mit Lisbeth aufgebracht und viel zu erregt, um auf direktem Weg nach Hause zu gehen. Trotz, Wut und Enttäuschung ließen sie ziellos durch die Gassen laufen.
Der Strafe würde sie sich nicht entziehen können, auch wenn sie noch so schwer zu verkraften wäre. Sie würde die Seide abliefern müssen, sonst würde man sie holen. Und sie wusste, die Wachleute wären nicht zimperlich …
Ein Zentner gesponnene Seide, das war ein nicht unbeträchtlicher Verlust. Doch so schnell würden die feinen Damen vom Seidamt sie nicht in die Knie zwingen. Sie könnte ihr letztes
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