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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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ist es ein Leichtes, gegen die Regeln zu verstoßen. Wenn du erwischt wirst, dann zahlst du einfach die Strafe. Aber du wirst ja nicht einmal erwischt. Weil keiner je wagen würde, der großen Frau Ime Hofe zu nahe zu treten. Oder der Frau Medman oder den Nichten des Bürgermeisters.«
    Die Mägde blieben wenige Schritt entfernt stehen, stellten ihre Körbe in den Staub und gafften sie unverhohlen an. Mit einem Mal wurde Lisbeth sich der Peinlichkeit der Szene, die sie boten, unangenehm bewusst.
    Doch die sonst so sanftmütige Clairgin schien, einmal in Rage geraten, nicht mehr zu bremsen zu sein. Sie war kaum wiederzuerkennen in ihrem Zorn, und niemals hätte Lisbeth ihr einen derart heftigen Ausbruch zugetraut. Herausfordernd funkelte Clairgin sie an. »Ist dir schon einmal aufgefallen, dass es nur wir ärmeren Seidenweberinnen sind, die erwischt und bestraft werden? Wann wäre je eine Frau van Berchem belangt worden? Von wem auch? Es gibt nicht einmal mehr einen Zunftvorstand!«
    »Die Gesetze der Zunft schützen uns alle.« Lisbeth spürte selbst, wie hohl ihre Worte klangen.
    »Welche Zunft? Die Zunft, in der jede Seidmacherin vor einem gewählten Zunftvorstand ihr Recht einfordern kann? Die Zunft, deren Gesetze jedem ihrer Mitglieder das Einkommen sichert? Diese Zunft von einst, die gibt es nicht mehr. Schon längst nicht mehr!«
    »Kein Wunder, wenn alle so denken …«
    Für einen Moment presste Clairgin die Lippen zusammen. Dann brach es aus ihr hervor: »Meinst du etwa, ich habe es aus Spaß getan? Ich kann mir die Löhne der kölnischen Seidspinnerinnen nicht mehr leisten! Ich muss jeden Pfennig sparen, um überhaupt Rohseide kaufen zu können. Du und eine Handvoll anderer, ihr kauft die Seide in großen Mengen auf. Uns Ärmeren bleibt nur der klägliche Rest, und der lohnt oft kaum die Mühe des Webens. Mit schlechter Ware verdienen wir kein Geld, also können wir uns noch weniger Rohseide leisten. Es ist ein Teufelskreis, in den ihr uns treibt. Und mit solchen Strafen« – mit dem Kinn deutete Clairgin vage in Richtung des van der Sarschen Hauses – »gebt ihr uns den Rest!«
    Lisbeth öffnete den Mund für eine Entgegnung, doch Clairgin ließ sie nicht zu Wort kommen. »Das hat doch Methode. Ihr seid erst zufrieden, wenn wir alle für euch um Lohn weben. Damit ihr immer reicher und fetter werdet.«
    Entgeistert starrte Lisbeth Clairgin an. »Das ist doch absurd!«, entgegnete sie. »Als ob ein paar reiche Seidmacherinnen dich und andere absichtlich ins Elend stürzen, damit ihr für sie um geringen Lohn webt!«
    »Was heißt
sie?
Meine Güte, Lisbeth! Du bist nicht besser als sie, du bist eine von ihnen!«, sagte Clairgin scharf. »Aber wenn du nicht einmal das verstehst, dann will ich mit dir nichts mehr zu schaffen haben!« Abrupt wandte Clairgin sich ab und ließ Lisbeth in der Gasse stehen.
    Die beiden Mägde starrten ihr hinterdrein. Die hatte es der feinen Dame aber gegeben! Zufrieden nahmen sie ihre Körbe auf und schlenderten von dannen.
    Aufgebracht lief Lisbeth zurück ins Haus Zur Roten Tür. Was Clairgin ihr da vorwarf, war einfach nicht wahr! Zwei Stufen auf einmal nehmend, eilte Lisbeth die Stiege hinauf in ihre Kammer. Die Freundin war nur verärgert über die Bestrafung, dachte sie und zog sich ungestüm die Haube vom Kopf. Doch an ihr musste Clairgin ihre Wut nicht auslassen! Mit hastigen Bewegungen streifte Lisbeth das apfelfarbene Oberkleid ab und zerrte an der Schnürung des Untergewandes. Clairgin hatte zwar im Zorn gesprochen, doch nie wäre Lisbeth auf die Idee gekommen, Clairgin neide ihr den Erfolg.
    Schnell hatte Lisbeth sich ihres neuen Kleides entledigt und warf es achtlos auf die Bettstatt. Sie hatte die Freude daran verloren. Stattdessen nahm sie ihr graues Alltagskleid vom Haken und schlüpfte hinein, wand sich ein schlichtes Tuch um das Haar und eilte die Stiege hinab.
    In der Werkstatt wechselten ihre Weberinnen erstaunte Blicke, als sie eines der Lehrmädchen von seinem Webstuhl vertrieb und sich selbst auf der harten Holzbank niederließ. Fest trat Lisbeth das Pedal. Die Fäden an den Litzen hoben die Kettfäden, und es bildete sich ein Fach. Lisbeth griff nach dem Schiffchen, das auf dem schmalen Streifen Gewebe vor ihr ruhte.
    Sie wolle andere Seidmacherinnen in ihre Abhängigkeit bringen, hatte Clairgin ihr vorgeworfen – so ein Unsinn! Behende ließ sie das Schiffchen durch das Fach zwischen den Kettfäden gleiten. Hatte sie sich nicht selbst dafür

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