Die Tochter der Seidenweberin
sie gegangen waren, kehrten die Lehrmädchen in die Werkstatt zurück, die Ballen mit Rohseide noch immer auf den Schultern balancierend.
»War bei Frau van Breitbach niemand daheim, dass ihr die Seide zurückbringt?«, fragte Lisbeth Rita.
Das pausbäckige Mädchen ließ sein Bündel zu Boden gleiten und schüttelte verneinend den weizenblonden Schopf. Betreten heftete es den Blick auf seine Füße.
»Sondern?«
Rita fiel es sichtlich schwer, zu antworten. Schließlich beugte sie sich vor und flüsterte, dass nur ihre Lehrherrin es verstehen konnte: »Die Frau van Breitbach lässt Euch bestellen, sie nähme keine Almosen an.«
10 . Kapitel
V iel zu lange schon hatte die Wolkenburg keine Festlichkeit mehr erlebt. Genau genommen seit dem Weihnachtsfest vor zweieinhalb Jahren. In höchster Eile hatte die hagere Hilda Maren und die Mägde angetrieben, die Wolkenburg für den Empfang der Gäste, die dem frisch ernannten Ratsherrn zu gratulieren wünschten, in einen präsentablen Zustand zu versetzen. Denn Hermans Ernennung war sehr plötzlich gekommen.
Als er am vergangenen Sonntag in das Versammlungshaus der Gaffel Wollenamt Vor Sankt Mattheis gekommen war, hatte es gegolten, zwei der vier Ratsherren, welche die Gaffel in den Rat entsenden durfte, zu ersetzen. Einmütig hatte man ihn zu einem der Ratsherren erkoren, welche für das kommende Jahr die Geschicke der Stadt zu lenken hatten.
Es gehörte zum Recht und zur Pflicht eines jeden Bürgers der Stadt, sei er nun Mitglied einer Handwerker- oder Kaufmannszunft oder nicht, einer der zweiundzwanzig Gaffeln beizutreten, jenen Vereinigungen, die ihren Namen von den bei gemeinsamen Essen verwendeten zweizinkigen Gabeln erhalten hatten.
So war zum einen sichergestellt, dass jedermann seinen Beitrag zur Verteidigung der Stadt leistete, denn die wurde, wenn Gefahr drohte, durch die Gaffeln organisiert. Zum anderen konnte jeder Bürger auf diese Weise Einfluss darauf nehmen, wer die Macht in Händen hielt, da die Gaffeln sechsunddreißig der insgesamt neunundvierzig Herren in den Rat entsandten.
Der Gaffel Wollenamt, der mächtigsten der zweiundzwanzig Gaffeln, gehörten Mitglieder verschiedener Zünfte an – der Weber, der Tuchscherer, der Blaufärber, der Seiler, der Garnmacher, der Weißgerber und natürlich der Seidmacherinnen.
Am gestrigen Johannistag war Herman, würdevoll gewandet in seinen neuen, in aller Eile gefertigten, schwarzen Mantel und den dazu passenden flachen, gleichfalls schwarzen Hut, zum Rathaus geschritten, wo sich die von den Gaffeln entsandten Ratsherren in der Ratskammer versammelten.
Nachdem die neuen Ratsherren – die andere Hälfte war bereits am ersten Weihnachtstag bestellt worden – ihren Eid abgelegt hatten, hatten sie aus der gesamten Bürgerschaft die Gebrechsherren gewählt, jene übrigen dreizehn Ratsherren, die nicht den Gaffeln entstammten und an denen es an der festgesetzten Anzahl von neunundvierzig gebrach. Mit diesen gemeinsam hatten sie dann Gerhard von dem Wasserfasse zum zweiten Bürgermeister neben Dietrich von Schiederich erkoren, denn auch von jenen wurde einer im Sommer und einer zu Neujahr gewählt.
Ein Hauch von Wehmut lag in Lisbeths Lächeln, als sie in der Rolle der Gastgeberin die nicht enden wollende Schar der Gratulanten begrüßte. Was würde sie darum geben, wenn ihr Vater diesen Tag noch hätte erleben dürfen. Oder wenn wenigstens Fygen hier wäre, um an ihrer Stelle die Gäste zu empfangen. Ihre Eltern wären so stolz auf Herman.
Doch es gab jemanden, der richtig stolz auf Herman war, stellte Lisbeth fest, als sie zu den Herren trat, die im Festsaal mit gefüllten Bechern auf das Wohl des frisch gekürten Ratsherrn anstießen. Neben Herman stand Alberto, dem die Freude deutlich in das dunkle Gesicht geschrieben stand.
»Aus Messina ist in diesem Jahr nicht viel Seide zu erwarten«, sagte Herman gerade. »Wir bekommen nur sieben Ballen, die den Gossenbrot in Augsburg gehören. Also werden wir uns mehr an Mailand und Genua halten müssen, fürchte ich.«
»Ja, ich hab schon gehört, dass diese Hunde von Luchesi alle Kokons aufgekauft haben«, stimmte sein Schwager Andreas Imhoff, mit einem kurzen Seitenblick auf Alberto, zu, was dieser mit einem breiten Grinsen quittierte. Die Sticheleien von Imhoff konnten ihm nichts anhaben – heute noch weniger als sonst.
»Da bekomme ich etwas mehr«, fuhr Andreas großspurig fort. »Ich kann ja schließlich in Antwerpen nicht mit Kleinkram
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