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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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keine andere Wahl gehabt hatte.
    Lisbeth bedauerte so sehr, dass sie die Not der Freundin nicht bemerkt hatte. Warum hatte Clairgin sie nicht um Hilfe gebeten? Es wäre ein Leichtes für sie gewesen, ihr mit einigen Ballen Rohseide auszuhelfen.
    Wieder und wieder war Lisbeth in Gedanken ihr Sündenregister durchgegangen. Und nicht nur ihr eigenes. Die Vergehen gegen die Zunftgesetze waren zahlreich.
    Besonders rüde verfuhr man mit den Seidspinnerinnen. Sie wurden mit Ware statt mit Geld entlohnt, man gab Seide zum Spinnen in die Beginenkonvente, nach Deutz oder schmuggelte sogar gesponnenes Garn aus Venedig und Lucca in die Stadt. Es gab keinen gewählten Vorstand mehr, keine Sitzungen der Amtsmeister, keine Protokolle. Lehrtöchter wurden nicht mehr eingetragen und fertige Seidenweberinnen nicht zum Seidamt zugelassen. Doch das größte Übel von allem war der Verlag.
    Wenn die Zunft wieder so werden sollte, wie sie einst gewesen war, als alle Seidmacherinnen ihr Auskommen fanden und für alle die gleichen Rechte galten, so erkannte Lisbeth, dann musste sie bei sich selbst anfangen. Mit diesem Gedanken war sie weit nach Mitternacht endlich in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen.
    Hastig sprang Lisbeth aus dem Bett und kleidete sich an. Kaum konnte sie es erwarten, dass die Lehrmädchen ihre Morgensuppe gelöffelt hatten und in der Werkstatt zur Arbeit erschienen.
    »Den, den und diesen!« Lisbeth wies auf verschiedene Ballen gesponnener Seide, die in den luftigen Regalen an der Kopfseite der Werkstatt ihrer Verarbeitung harrten. Sie mussten zusammen in etwa einen Zentner wiegen. »Schlagt sie sorgfältig in Wachstuch und bringt sie zu Clairgin van Breitbach«, wies sie die Mädchen an. Fragend blickten Klara und Rita, ihre beiden älteren Lehrtöchter, sie an. »Ihr wisst, wo sie wohnt?«
    Die Mädchen nickten.
    »Sagt ihr, sie solle es als Darlehen betrachten und mir die Rohseide zurückgeben, wann immer sie dazu in der Lage ist.«
    Abermals nickten Klara und Rita, und unter den erstaunten Blicken der Weberinnen luden sie und die anderen Lehrmädchen sich die Seide auf die Schultern und verließen im Gänsemarsch die Werkstatt.
    Doch dies blieb an diesem Morgen nicht der einzige Anlass, den Lisbeth ihren Weberinnen gab, sich zu wundern. »Ah, Apolonia! Ihr kommt mir gerade recht«, begrüßte sie die junge Seidspinnerin, die just in diesem Moment in die Werkstatt trat. »Ihr wollt Euren Lohn abholen, nicht wahr?«
    Ein besorgter Schatten fiel über Apolonia Loubachs Gesicht. »Ja«, antwortete sie, das Wort vorsichtig gedehnt, und zog den Kopf zwischen die Schultern. Deutlich waren der jungen Frau ihre Befürchtungen ins Gesicht geschrieben.
    Lisbeth schluckte. So weit war es also gekommen. Die Seidspinnerin fürchtete sich vor ihr. Argwöhnte, sie wolle ihre Arbeit rügen oder ihr abermals den Lohn senken. Lisbeths Stimme klang spröde, als sie sagte: »Vierzehn Albus pro Pfund, nicht wahr?«
    Überrascht hob Apolonia den Kopf, forschte in Lisbeths Zügen nach Hohn. Doch die begegnete offen ihrem Blick. »Vierzehn Albus«, bestätigte Apolonia, und ein warmes Lächeln trieb den Schatten von ihrem Gesicht.
    Das war ein Leichtes gewesen, dachte Lisbeth, als die Seidspinnerin ihre Werkstatt mit dem gerechten Lohn verlassen hatte. Damit hatte sie zwar noch nicht viel erreicht, doch es war ein Anfang. Nicht schwieriger wäre es, die beiden nächsten Lehrtöchter, die ihre Prüfung ablegten, nicht zu ersetzen – Klara im kommenden Winter und Rita im Herbst darauf –, um nurmehr die vorgeschriebenen vier Mädchen zugleich in Diensten zu haben. Wenn sie mehr Hilfe benötigte, würde sie eben noch weitere ausgelernte Weberinnen oder Helferinnen einstellen. Ihren Verdienst würde das nur um weniges schmälern.
    Weit schwieriger gestaltete sich jedoch die Sache mit den Beginen und dem Verlag. Zunächst hatte Lisbeth spontan beschlossen, ab sofort keine Rohseide mehr zum Spinnen in den Annenkonvent und keine gesponnene Seide mehr zum Weben außer Haus zu geben.
    Doch damit wäre den Frauen nicht gedient. Im Gegenteil: Die Weberinnen wie auch die Beginen waren dringlich darauf angewiesen, dass man ihnen Arbeit gab. Und wenn sie es nicht tat, dann taten es andere, womöglich sogar um noch geringeren Lohn. Wie Lisbeth es auch drehte und wendete, es war ein Teufelskreis, den sie aus eigener Kraft nicht zu durchbrechen vermochte.
    Das Klappen der Werkstatttür riss Lisbeth aus ihren Überlegungen. Im Gänsemarsch, so wie

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