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Die Tochter der Seidenweberin

Die Tochter der Seidenweberin

Titel: Die Tochter der Seidenweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula Niehaus
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es verbreitete doch ein gar angenehmes Gruseln – freilich nur, solange man nicht selbst betroffen war.
    Der Pfarrer, der sich nun der ungeteilten Aufmerksamkeit seiner Schäflein gewiss war, senkte die Stimme auf normale Predigtlautstärke. »Seit langem schon treibt sich eine verderbte Gesellschaft auf dem Heumarkt herum«, fuhr er fort. »Verkriecht sich für ihre Unzucht in die Häuschen am Leinwandmarkt. Es ist, wie Paulus in seinem Brief an die Römer schreibt: Männer verschmähen den natürlichen Gebrauch der Frauen, erhitzen sich aneinander und treiben Schande – Mann mit Mann!«
    Ein Raunen der Verwirrung strich durch das Gotteshaus, als man begriff, von welcher Sünde die Rede war: die stumme, die unsprechliche Sünde.
    Der Pfarrer holte tief Luft, und die Gemeinde, an die Rhetorik ihres Hirten gewöhnt, hielt gespannt den Atem an. Man wusste, er prangerte nicht des Prangerns willen.
    »Doch nicht nur dieses faule Gelichter ist mit dieser Sünde befleckt – nein –, bis ins hohe Haus des Rates gar hat sich die Sünde gekreucht!«
    Das war unfassbar! Erschrocken, doch nicht ohne Neugier, blickte man um sich. Senkte einer verschämt das Haupt, um des Wortgewaltigen stechenden Blickes zu entgehen? Einer der honorigen Herren im schwarzen Tuch der Ratsherren gar?
    »Du sollst nicht beim Knaben liegen wie beim Weibe, denn es ist ein Greuel! Wenn jemand beim Knaben schläft wie beim Weibe, haben sie einen Greuel getan und sollen beide des Todes sterben; ihr Blut sei auf ihnen.« Die Worte Gottes fluteten der Gemeinde in das Gewissen.
    »Sie ziehen den Zorn des Allmächtigen auf sich. Ihrem lüsternen Treiben ist Aufruhr und Brand zu danken, wie er unlängst die Stadt gegeißelt …«
    Als die Messe ihr Ende gefunden hatte, vermochten die Kirchgänger nur schwerlich ihre Mutmaßungen zurückzuhalten, wer denn nun wann und wo und vor allem mit wem und mit wem nicht gesündigt habe, bis sie das Gotteshaus verlassen hatten. Das war eine aufsehenerregende Predigt gewesen, dessen war man sich einig.
    Doch auch der Pfarrer von Sankt Peter war zufrieden. Ganz gehörig hatte er die Gemeinde aufgerüttelt. Raschen Schrittes eilte er in das niedrige Sakristeihaus, das der Nordseite der Kirche angebaut war.
    Vielleicht sollte man in Erwägung ziehen, alle Häuschen am Leinwandmarkt einfach abzubrennen, um das Laster zu vertreiben, sinnierte er. Beinahe wohlgestimmt genehmigte er sich einen Schluck roten Messweines gegen die Herbstkälte, die in seine gichtischen Knochen biss, als er das Geräusch schwerer Schritte vernahm. Der Pfarrer wähnte den Sakristan hinter sich und gönnte sich einen letzten Schluck, bevor er den Krug verkorkte und mit einem Kreiderest augenfällig darauf eine Markierung anbrachte.
Quod licet Iovi …,
dachte er – was dem Jupiter erlaubt ist.
    »Eine schöne Predigt, Hochwürden!«
    Das war nicht das kieksende Falsett des Küsters! Erschreckt fuhr der Pfarrer herum. Vor ihm stand ein hochgewachsener Mann mit Stiernacken. Der stattliche Besucher war in einen schwarz-roten Umhang gehüllt, und der Pfarrer benötigte einen Moment, um in dem Hünen Bürgermeister van Berchem zu erkennen.
    »Wie meint Ihr?«, fragte er verdutzt und faltete in gewohnter Pose die Hände vor dem Bauch, um die seinem Amt angemessene Würde zurückzuerlangen.
    Van Berchem war kein Mann, der große Vorreden bemühte. »Ich nehme an, Ihr hattet einen Anlass für den Gegenstand Eurer Predigt?«
    »Ja, leider!« Der Pfarrer seufzte. »Ich habe sichere Kenntnis erhalten, dass die stumme Sünde in der Stadt umgeht.«
    »Ich irre nicht, wenn ich davon ausgehe, dass Ihr diese Kenntnis in der heiligen Beichte erhieltet?«, fragte van Berchem.
    »Da irrt Ihr ganz und gar nicht.«
    »Weshalb Ihr nicht geneigt seid, jene Personen namhaft zu machen?«
    »Auch darin geht Ihr recht.« Was ihm bei der Beichte zugewispert worden war, so grauenvoll es auch sein mochte, unterlag selbstverständlich dem Beichtgeheimnis.
    Der Bürgermeister nickte bedächtig, als wäre er nicht unzufrieden mit der Antwort des Geistlichen. Einen Moment schien er zu überlegen. »Wenn ich mich recht entsinne, so nanntet Ihr die stumme Sünde als Grund für die Unruhen im Volke?«
    Der Pfarrer nickte. »Ganz recht.«
    »Der Unterschied zwischen Grund und Anlass ist Euch geläufig?«
    »Sicher.« Der Pfarrer erlaubte sich ein feines Lächeln, entschlossen, die Worte des Bürgermeisters nicht als Kränkung zu verstehen. Zu viele seiner Amtskollegen waren

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