Die Tochter der Seidenweberin
kaum des Lesens mächtig, von rhetorischer Feinheit ganz zu schweigen.
Van Berchem fasste sein Gegenüber scharf ins Auge. »Nun, es würde mich nicht erfreuen, wenn es diesmal umgekehrt käme – dass die Sünde Anlass gibt für Unruhen, wenn Ihr versteht, was ich meine.«
Der Pfarrer verstand ganz genau. In Zeiten wie dieser genügte ein kleiner Funken, um die Bürgerschaft in Aufruhr zu versetzen und sich gegen die Obrigkeit zu erheben. Der offenkundig gemachte Sündenfall eines Ratsmitgliedes konnte sehr wohl zu genau solch einem Funken werden.
»Vielleicht belasst Ihr es also bei dieser einen Ermahnung?«
Der Pfarrer zögerte. Keinesfalls wollte er sich angesichts des Jüngsten Gerichtes vor dem Herrgott dafür rechtfertigen müssen, leichtfertig einen Aufruhr ausgelöst zu haben, der Unglück und viele Tote über die Stadt brachte.
Abermals entfuhr dem Pfarrer ein tiefer Seufzer. Amt und Jahre hatten ihn verständig genug werden lassen, um einzusehen, dass seine Worte, so eindrücklich sie auch sein mochten, die Verderbten ohnehin nicht von ihrem Vergehen gegen die Natur abbringen würden. Doch die Neugier ihrer Mitmenschen war nicht zu unterschätzen, und so würden sie sich künftig bei ihrem schändlichen Tun weit größerer Vorsicht befleißigen müssen. Seiner Pflicht war damit Genüge getan, entschied er und nickte seine Zustimmung.
»Natürlich wird sich der Rat erkenntlich zeigen. Für Eure Verdienste um die Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit in der Stadt werde ich Euch aus den Kellern des Rathauses einen guten Tropfen verehren«, sagte van Berchem und wandte sich gerade zum Gehen, als der Küster in die Sakristei trat.
Respektvoll geleitete der Pfarrer den gnädigen Herrn zum Portal, derweil in der Sakristei der Küster die Kreide vom Krug mit dem Messwein wischte.
Bevor der Bürgermeister das Gotteshaus verließ, drehte er sich noch einmal zum Pfarrer um. »Nur weil es mich interessiert: Wieso nennt man es eigentlich die unsprechliche, die stumme Sünde?«
»Die Bezeichnung rührt daher, dass keiner, nicht einmal der Teufel, es je gewagt hätte, dieser Sünde einen Namen zu geben.«
In der Sakristei entkorkte der Küster den Krug und nahm einen Schluck, der dem des Pfarrers nicht nachstand. Dann holte er die Kreide aus dem Eck und brachte eine neue Markierung auf dem Krug an, gut einen Fingerbreit unterhalb der des Pfarrers.
… etiam licet bovi
– das ist auch dem Ochsen erlaubt.
»Das ist alles?«, fragte Lisbeth und blickte irritiert auf die vier Ballen Seidenstoff, die Ida Rummels aus dem Wachstuch wickelte und ihr zur Begutachtung vorlegte. Die Beschaffenheit des Stoffes brauchte sie nicht zu überprüfen, sie wusste, die wäre so gut wie gewohnt, doch Lisbeth meinte, sich zu erinnern, Ida weit mehr Rohseide gegeben zu haben. Für sechs Ballen hätte es alle Male reichen müssen.
Ida nickte beschämt. »Ich hab ja noch gut ein Drittel der Rohseide von Euch. Nicht, dass Ihr denkt, ich wolle Euch darum betrügen …« Sie hielt inne und blickte sichtlich beschämt zu Boden.
»Was ist geschehen«, fragte Lisbeth sanft. Ida war eine der Seidmacherinnen, die für sie im Verlag arbeitete. Bis dato hatte sie stets zügig und zuverlässig ihre Arbeit abgeliefert.
»Ich habe nur noch zwei Webstühle«, sagte sie leise.
»Was ist mit dem dritten?«
»Er ist alt, und ich hab ihn schon mehrmals ausbessern lassen. Aber jetzt ist er ganz hinüber.« Und nach einer Pause fuhr sie kaum hörbar fort: »Einen neuen kann ich mir einfach nicht leisten.«
»Daran soll es nun wirklich nicht scheitern«, entschied Lisbeth. Ich habe noch einen Webstuhl, der nicht mehr in Gebrauch ist. Es ist zwar nicht der neueste, und der Kettbaum muss ausgebessert werden, doch das ist das Geringste. Ich lasse ihn dir in ein paar Tagen hinüberbringen.«
Ida starrte sie mit großen Augen an. Dann ergriff sie Lisbeths Hand, beugte sich darüber und führte sie an ihre Lippen. »Danke Euch. Vielmals Dank. Der Herrgott wird es Euch vergelten«, stammelte sie.
Verlegen entzog Lisbeth ihr die Hand. Dafür hatte sie keinen Dank verdient. Es war das mindeste, was sie für die Seidmacherin tun konnte.
Kaum hatte Ida die Werkstatt verlassen, als Rita, ohne anzuklopfen, eintrat. Sie war so lange hier tagtäglich als Lehrmädchen ein und aus gegangen, dass sie einfach nicht daran dachte. Doch vor ein paar Wochen war Ritas Lehrzeit zu Ende gegangen. Sie hatte das Haus Zur Roten Tür verlassen und den Melchior
Weitere Kostenlose Bücher