Die Tochter der Seidenweberin
dass man Herman abholte, in Lisbeth die Hoffnung.
Und dann dämmerte grau der Tag des heiligen Kunibert herauf. Auf dem Domhof, zu Fuße des immer noch unvollendeten Gotteshauses, hatte man die Schöffenbänke zum Geviert gestellt, und trotz des garstigen Wetters hatte sich eine ansehnliche Schar Zuschauer eingefunden. Schließlich war das Verbrechen, über das man hier richtete, keines, das jeden Tag geschah. Überdies sorgte die Person des Delinquenten für zusätzliche Pikanterie: War der doch Gast – und sicherlich mehr als das, wie die Klatschmäuler zu berichten wussten – eines gnädigen Ratsherrn!
Schweigend stand Lisbeth mit Herman in der Menge. Hoch aufgerichtet, die Kapuze ihres dunklen Mantels tief in das Gesicht gezogen, war sie sich der neugierigen Blicke, die auf sie gerichtet waren, unangenehm bewusst. Sorge und Anspannung der vergangenen Tage hatten deutliche Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Sie war blass, und unter ihren Augen lagen tiefe Schatten.
»Ob man ihm wohl den Kopf abschlägt?«, fragte eine Buttermagd aus dem Vorgebirge laut neben Lisbeth, und sie zuckte zusammen.
»Für Sodomie? Niemals! Das ist so abscheulich! Aufs Rad flechten werden sie ihn!« Eine knochige Alte wusste es besser und schüttelte sich in wohligem Grausen.
Lisbeth stellten sich die feinen Härchen an den Armen auf. Angestrengt bemühte sie sich, nicht auf das Geschwätz um sie her zu hören, doch es gelang ihr nicht.
»Na, wie wär es mit Ersäufen?«, schlug ein baumlanger Bursche mit vernarbtem Gesicht vor.
»Ersäufen ist nur fürs Weibsvolk!«, widersprach ihm die Alte.
»Na eben drum!«, versetzte der Kerl mit anzüglichem Lachen.
Mit überlautem Kreischen fielen die Weiber in sein Gelächter mit ein.
Als sich die Tore der Hacht an der Südwestecke des Domhofes nahe dem Eingang von Unter Goldschmied öffneten, verstummte das aufgeregte Gerede der Zuschauer. Gespannt beobachtete man, wie die Prozession, angeführt vom Greven und den Schöffen, durch das Tor trat und den Schöffenbänken zustrebte. Es folgten der rotgewandete Scharfrichter und die Gewaltrichterboten in ihrer bunten Dienstkleidung mit zweifarbigen Hüten.
Lisbeth hielt den Atem an, als schließlich die Büttel erschienen, die den Delinquenten in ihrer Mitte führten. Die Menge johlte und kreischte.
»Sodomit!«, gellte die Buttermagd und klatschte vor Begeisterung in die Hände.
»Lombarde!«, schrie die Alte. »Hängt den Hurenbock!«
Als Lisbeth Alberto erblickte, schlug sie entsetzt die Hand vor den Mund, und sie spürte, wie auch Herman neben ihr zusammenzuckte. Sein Gefährte bot einen schrecklichen Anblick. Mit Mühe humpelte er zwischen seinen Bewachern voran. Albertos ehedem gebräuntes Gesicht war aschfahl und überkrustet von geronnenem Blut, seine Hände und Füße in blutige Lumpen gewickelt. Sein rechter Arm stand in schiefem Winkel vom Körper ab, anscheinend nur nachlässig vom Scharfrichter eingerichtet, nachdem er ihm zuvor aus dem Gelenk gerissen worden war. Alberto musste der peinlichen Befragung lange standgehalten haben.
Außerhalb der Schöffenbänke blieben der Scharfrichter und die Büttel mit Alberto stehen, während Schöffen und Greve sich in den Bänken niederließen.
Feiner Nieselregen fiel auf die Versammlung, und wie erstarrt sah Lisbeth zu, wie der Schöffenmeister eilig von einem Schöffen zum andern ging, ihm ins Ohr flüsterte und ihn an seine Verschwiegenheitspflicht gemahnte. Was bei der Befragung des Delinquenten zutage gekommen war, durfte der Allgemeinheit nicht offenbart werden.
Als der Schöffenmeister wieder seinen Platz eingenommen hatte, erhob sich der Greve. Gewöhnlich zelebrierte der kleingewachsene Mann in aller Ausführlichkeit die Wichtigkeit des Amtes, für das ihn der Erzbischof ausgewählt hatte. Denn bei aller Macht, die der Rat der Stadt sich in jahrhundertelangen Auseinandersetzungen mit dem Erzbischof erstritten hatte, so übte der Erzbischof doch immer noch den königlichen Blutbann aus, behielt die Gerichtsgewalt über schwere Verbrechen, die mit Leibes- oder Todesstrafe geahndet wurden. Doch angesichts der Kälte und der alles durchweichenden Nebelschwaden, die sich in den Ecken des Domhofes an die Mauern klammerten, hielt er sich heute nicht mit belehrenden Reden auf, sondern kam sogleich zur Sache. »Alberto Pezzi von Lucca«, verkündete er mit sonorer Stimme. »Ihr seid vor dem Erzbischöflichen Hochgericht überführt und geständig der versuchten Vergewaltigung
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