Die Tochter der Seidenweberin
einfach stärker als wir! In Florenz sind es die Uffiali della Notte, die ganz gezielt nach Sodomitern sucht, und in Venedig das Collegium Sodomitarum, das seine Fühler über das ganze Land ausstreckt und uns verfolgt.«
»Habt ihr deshalb Lucca verlassen und seid nach Köln gekommen?« Lisbeths mitfühlende Worte waren mehr Feststellung als Frage. In Köln wurden Männer, die der stummen Sünde verfallen waren, nicht von den Bütteln verfolgt. Sie standen in schlechtem Ruf, und man spottete ihrer, doch solange sie niemandem etwas zuleide taten, solange kein Verbrechen geschah, ließ man sie unbehelligt.
Wer immer Herman Böses wollte, er hatte es sehr geschickt eingefädelt. Hätte er öffentlich gemacht, dass der gnädige Ratsherr Herman Lützenkirchen ein Fisternöll mit einem anderen Mann hätte, wäre nur Hermans Ruf ruiniert gewesen. Indem seine Feinde aber ein Verbrechen vortäuschten …
Lisbeth durchfuhr ein bleierner Schreck. Bis dato hatte sie nur an Alberto gedacht und war sich der großen Gefahr, in der Herman selbst schwebte, gar nicht bewusst gewesen.
Man würde Alberto peinlich befragen, und wer weiß, was dieser gestehen würde. Oder was man ihn zu gestehen zwang? Wie weit mochte der Arm der Verleumder reichen? Seine Beziehung zu Herman wäre da noch das mindeste. Was, wenn er aussagte, Herman sei an der Tat beteiligt gewesen? Dann würde man auch Herman verhaften!
Doch wie sollte Alberto schweigen, angesichts der Mittel, die dem Scharfrichter zur Verfügung standen? Kalter Schweiß trat Lisbeth aus den Poren, und trotz der herbstlichen Kühle war ihr Kleid binnen eines Wimpernschlages durchweicht. »Du musst die Stadt verlassen!«, brachte sie atemlos hervor. »Jetzt gleich!«
»Nein, ich bleibe! Das bin ich Alberto schuldig.« Hermans Stimme klang erschreckend fest.
Lisbeth rang um Luft. Sein ganzes Leben lang war Herman vor Schwierigkeiten davongelaufen, hatte bei unwichtigen Dingen Reißaus genommen wie damals, als ihm die Seidenraupenzucht misslungen war. Wieso musste er jetzt plötzlich Rückgrat zeigen? Jetzt, wo es ihn das Leben kosten konnte?
Am liebsten hätte Lisbeth geschrien und ihren Bruder geschüttelt, doch sie zwang sich zur Ruhe. »Herman, damit rettest du Alberto nicht! Ihm kann nur noch Gott helfen. Bring dich in Sicherheit. Noch heute Nacht. Alberto wird es verstehen. Geh zu Mutter nach Valencia …«, flehte sie eindringlich.
Stoisch schüttelte Herman den Kopf. »Ich bleibe!«, beharrte er und verschloss sich in tiefem, hoffnungslosem Schweigen.
Lisbeth schlug die Hände vors Gesicht. An der Festigkeit und Ruhe, die in seiner Stimme lagen, erkannte sie, dass er seine Entscheidung getroffen hatte. Er würde sie nicht ändern, gleich, was sie auch sagen mochte.
Der letzte Lichtschein war hinter den dunklen Wolken verschwunden, und das Kontor lag in Finsternis, doch Lisbeth vermochte es nicht, sich zu erheben, um ein Licht zu entzünden oder den Kamin anzufachen. Es blieb nichts zu tun, was das Grauen würde abwenden können. Nichts blieb, außer zu warten. Wie eine kalte Woge ergriff die Verzweiflung von ihr Besitz und durchflutete sie, bis sich jeder einzelne Körperteil angefüllt hatte mit lähmender Angst.
Zäh zogen sich die Tage dahin, trübe und hoffnungslos. Lisbeth war bei Herman in der Wolkenburg geblieben. Die meiste Zeit verbrachte sie kniend in der kleinen Kapelle im Erdgeschoss des Hauses. Lisbeth konnte sich nicht entsinnen, je zuvor so viel gebetet zu haben. Doch wie groß konnte ihre Hoffnung sein, der Herrgott möge ihre Bitten für den Bruder und seinen Freund erhören, angesichts der Schwere der Schuld, die sie auf sich geladen hatten?
Herman brachte die meiste Zeit in seinem Sessel im Kontor zu, kaum dass er ihn verließ, außer um im Latrinenhaus seine Notdurft zu verrichten. Die Mahlzeiten, die die alte Hilda ihm unter Mühen selbst bereitete und ins Kontor brachte, rührte er nicht an. Auch Lisbeth vermochte es kaum, Speisen zu sich zu nehmen, und kummervoll musste sie mit ansehen, wie Herman von Tag zu Tag weiter in sich zusammensank. Aus dem kräftigen, hochgewachsenen Mann wurde eine gebeugte Gestalt, die unter der Last des Schicksals schier zusammenzubrechen drohte. Die Haut in seinem Gesicht wurde fahl und nahm einen aschfarbenen Ton an, in seine blonden Locken mischten sich täglich neue Silbersträhnen.
Doch so lange die Tage sich auch dehnten, bleiern ineinanderflossen, so wuchs gleichwohl mit jedem Tag, der verstrich, ohne
Weitere Kostenlose Bücher