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Die Tochter der Suendenheilerin

Die Tochter der Suendenheilerin

Titel: Die Tochter der Suendenheilerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Metzenthin
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liebte Herausforderungen, wenn die Kraft ihn durchströmte. Nichts konnte ihn aufhalten. Er wand sich noch weiter aus der Öffnung, bis er auf dem Sims saß, während sein Oberkörper aus dem Kerkerfenster ragte. Dann untersuchte er die Mauer. Einige der Steine standen unregelmäßig vor. Kein sonderlich sicherer Stand, für ihn jedoch leicht zu bewältigen. Gut, ein weniger geschickter Mann hätte durch einen einzigen Fehlgriff abstürzen können – aber was scherte ihn das? Nur gut, dass Meret und seine Mutter ihn nicht sahen. Ihre übertriebene Ängstlichkeit war ihm zunehmend lästig.
    Frei von jeder Furcht griff Rudolf nach den Steinen, zog sich vollends aus dem Fenster und kletterte mit beachtlicher Schnelligkeit auf das schräg abfallende Dach. Die Schindeln waren glatt, aber auch hier half ihm das Gefühl der Unfehlbarkeit, jedes Hindernis zu überwinden. Vom Dach des Kerkers aus sprang er mit Leichtigkeit auf ein weiteres Dach und ruhte eine Weile aus.
    Während er über die Wälder tief unter sich hinwegsah, überdachte er sein weiteres Vorgehen. Sollte er Meinolf einen Besuch abstatten und ihm ein Veilchen verpassen? Seine Mutter beruhigen? Oder doch lieber Sibylla seine Aufwartung machen? Er hatte ihr entsetztes Gesicht gesehen, als die Waffenknechte ihn aus dem Kaminsaal geschleift hatten. Vermutlich sollte er erst einmal sie beruhigen. Oder doch erst seine Mutter, damit sie Eberhard aufsuchte und im Auftrag ihres Sohns um Sibyllas Hand bat? Nein, das wäre wohl ein wenig verfrüht gewesen. Sibylla hatte schließlich darum gebeten, es erst nach Beendigung der Fehde zu tun.
    Also doch zu Sibylla. Sie hatte ihm versichert, ihm ihre Zuneigung auch dann zu schenken, wenn das Feuer ihn verzehrte. Gewiss erführe sie mit Freuden, dass ihn niemand auf Dauer gegen seinen Willen festhalten konnte und dass ihn sein erster Weg von nun an stets zu ihr führen würde. Ganz gleich, welchen Widrigkeiten er sich ausgesetzt sah.
    Sollte er sie wieder durchs Fenster besuchen? Sehnsüchtig spähte er zu ihrem Turm hinüber. Von hier aus führte allerdings ohne Hilfsmittel von außen kein Weg zu ihrer Kammer. Rudolf seufzte. Obwohl ein herkömmlicher Auftritt bei Weitem nicht so ritterlich wirkte, wie er ihn sich gewünscht hätte, kam wohl nur der Zugang durch die Tür infrage.
    Vorsichtig ließ er sich vom Dach hinab und erreichte einen der kleinen Nebenhöfe. Um diese Zeit war es hier menschenleer. Eigentlich schade. Es hätte ihn gereizt, Meinolf und Ulf vorzuführen, wie er mit ihren Waffenknechten umsprang. Ob er sich bei Sibylla entschuldigen sollte, dass er ihrem Vater die Faust ins Gesicht gerammt hatte? Das wäre vermutlich angemessen gewesen. Immerhin handelte es sich um seinen künftigen Schwiegervater.
    Während ihm so viele Gedanken durch den Kopf schossen, hatten seine Füße ihn längst zum Turm gelenkt. Er öffnete die Tür und hörte die Waffenknechte in der Wachstube laut lachen. Pflichtvergessenes Pack, aber ihm war es recht. So kurz vor dem Ziel legte er keinen Wert auf eine weitere Schlägerei. Er blickte an sich hinunter. Seine Kleidung hatte unter den Ereignissen der letzten Stunde arg gelitten. An den Flecken ließ sich noch gut erkennen, was es zum Abendmahl gegeben hatte, und sein Bliaut war an mehreren Stellen zerrissen. Vielleicht sollte er sich doch erst umkleiden, bevor er Sibylla unter die Augen trat? Und wenn er schon seine Kammer aufsuchte, konnte er danach auch den Weg durchs Fenster nehmen. Aber was war mit Meret? Die würde nur wieder jammern und womöglich ihrer Mutter Bescheid sagen. Demnach war es wohl doch besser, Sibylla auf kürzestem Weg zu besuchen.
    Als er an Sibyllas Tür klopfte, regte sich nichts. Er klopfte noch einmal, diesmal lauter.
    »Ich will niemanden sehen!«, hörte er ihre Stimme. Sie klang zornig und zugleich verzweifelt.
    »Sibylla, mach auf, ich bin’s, Rudolf!«
    Hastige Schritte, dann wurde der Riegel aufgeschoben.
    »Rudolf!« Sie starrte ihn fassungslos an. Vermutlich hätte er doch erst seine Kleidung wechseln sollen.
    »Wie … ich dachte, mein Großvater hätte dich in den Kerker werfen lassen.«
    »Das hat er auch getan. Aber dort gefiel es mir nicht. Darf ich hineinkommen?«
    Sie nickte wortlos und trat einen Schritt beiseite.
    »Aber … wer hat dich freigelassen?«
    Rudolf lächelte. »Niemand. Ich bin aus dem Fenster gestiegen und dann übers Dach geklettert.«
    »Du … du bist aus dem Fenster …?« Sie wurde blass. »Das war doch

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