Die Tochter der Suendenheilerin
Narbe sofort wiedererkannt.«
»Aber warum habt ihr euch so zornig gemustert? Du hast ihm doch nichts getan, sondern ihm geholfen.«
»So ist es. Doch die Geschichte geht noch weiter. Nachdem wir uns sicher waren, dass es nur diesen einen Überlebenden gab und uns keine Gefahr drohte, schlossen meine Begleiter mit den Pferden zu uns auf. Wir kannten die Pflicht der Gläubigen. Verstorbene müssen so rasch wie möglich bestattet werden. Obwohl wir nicht wussten, wer die Toten waren, fühlten wir uns doch für ihre letzte Ruhe verantwortlich und hoben drei Gräber aus. Für die beiden Araber und den Franken. Dabei schweifte mein Blick immer wieder zu der Düne hinüber, hinter der sich der Verwundete versteckte. Hoffentlich sah er endlich ein, dass wir ihm helfen wollten! Andererseits war ich nicht sicher, wer hier wen überfallen hatte. Gehörten die beiden zu einem Trupp marodierender Kreuzritter, oder waren sie allein unterwegs gewesen und arabischen Wüstenräubern in die Hände gefallen? Beides war möglich. Die Toten hatten keine Wertgegenstände mehr bei sich. Möglicherweise hatten die Räuber den Verletzten für tot gehalten und waren mit ihrer Beute auf und davon geritten. Es war aber ebenso gut möglich, dass sie geflohen waren und der Verletzte die Wertgegenstände der Toten an sich genommen hatte, bevor er sich vor uns versteckt hatte. Wie auch immer, wir stimmten das Totengebet an. In dieser kurzen Zeit ließ ich die Düne aus den Augen. Und genau diesen Augenblick hatte der Verletzte abgewartet. Ohne dass wir etwas bemerkten, schlich er sich zu unseren Pferden. Als wir aufmerksam wurden, war es zu spät. Zum Dank für meine Hilfe stahl er meinen Hengst und trieb die übrigen Pferde auseinander, damit wir ihn nicht verfolgen konnten. Es dauerte Stunden, bis wir sie wieder eingefangen hatten. Ich habe natürlich dennoch nach dem Pferdedieb gesucht, aber er war wie vom Erdboden verschluckt. Auch in Alexandria hatte ihn niemand gesehen, obwohl er aufgrund seiner Verletzung leicht zu erkennen gewesen wäre.«
Antonia war tief erschüttert. Bislang hatte sie Stephan immer als einen ehrenhaften Mann erlebt, der keine Furcht zu kennen schien. Das Bild, das Karim ihr vermittelt hatte, zeugte von einem anderen Menschen.
»Er muss furchtbare Angst gehabt haben«, murmelte sie. »Er war verletzt und wollte fort. Deshalb hat er das Pferd gestohlen und die anderen verjagt.«
»Das mag sein«, gab Karim zu. »Ich nehme es ihm dennoch übel. Jeder kennt die Bedeutung, wenn einem Mann in der Wüste Wasser gereicht wird.«
»Vielleicht befürchtete er eine Falle.«
»Wir hätten ihn ohne Weiteres töten können, und das hätte er wissen müssen. Ich glaube vielmehr, er war einer der Räuber. Seine Spießgesellen hielten ihn für tot und ließen ihn zurück. Muslime hätten ihren Glaubensbruder nicht den Geiern überlassen. Ein Räuber und Mörder aber hätte allen Grund gehabt, vor uns zu fliehen.«
»Ich kann nicht glauben, dass Stephan ein Mörder ist«, widersprach Antonia.
»Ein Pferdedieb ist er in jedem Fall.«
»War das Pferd, das er dir nahm, ein Falbe?«
Karim nickte.
»Er hat das Tier noch immer«, sagte sie. »Vielleicht gibt er es dir zurück.«
»Ich werde gewiss nicht so tief sinken, mein Eigentum von einem Vasallen meines Onkels zurückzuverlangen und damit Zwist heraufzubeschwören. Wie es scheint, ist es derzeit notwendiger denn je, dass alle zusammenstehen.«
16. Kapitel
I n dieser Nacht wurde Antonia von unruhigen Träumen heimgesucht. Es war, als sei Karims Erzählung in ihrer Seele lebendig geworden. Sie sah Stephan mit blutüberströmtem Gesicht inmitten einer Überzahl von Feinden. Dann war er wieder allein, und sie erkannte Karim mit dem Wasserschlauch. Doch zugleich war sie selbst an Stephans Stelle, betrachtete Karim mit seinen Augen. Das Gesicht ihres Vetters verwandelte sich in eine albtraumhafte Fratze, das Wasser in Blut.
Schweißgebadet schreckte sie hoch.
Durch die Ritzen der Fensterläden drang ein schmaler roter Streif. Antonia stieg aus dem Bett und öffnete das Fenster. Die Sonne erhob sich soeben über den dichten Wäldern, Vögel sangen das erste Lied des Tages, und ein lauer Wind strich ihr sanft über das Gesicht. Ein herrlicher Tag mit strahlend blauem Himmel kündigte sich an. Viel zu schade, sich trüben Gedanken hinzugeben.
Um diese Stunde erwachte die Burg allmählich. Das Gesinde nahm seine Arbeit auf, und mit etwas Glück bekam man in der Küche
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