Die Tochter der Suendenheilerin
betrachtete. Ob sie nach der Seelenflamme in seinen Augen suchte?
»Wie sollen wir Eurer Ansicht nach Gott unsere Demut dann bezeugen, Herr Hugo?«, fragte Lena nun.
»Dazu kenne ich Euch bislang zu wenig. Gebt mir ein wenig Zeit!«
Nachdem die Tafel aufgehoben war und der neue Kaplan sich zurückgezogen hatte, hörte Antonia, wie ihr Vater die Mutter nach ihrer Meinung fragte.
»Er hat eine helle, leuchtende Seelenflamme«, antwortete Lena. »Er ist mit sich selbst im Reinen.«
»Das hat nichts zu besagen. Auch Fanatiker können mit sich im Reinen sein«, entgegnete Philip.
»Aber meist leuchtet in deren Augen der rote Funke des Zorns und der Leidenschaft. Nichts von alldem sah ich bei Hugo.« Sie senkte kurz die Lider. »Wenn ich nicht diese Geschichten über ihn gehört hätte, hielte ich ihn für einen ehrlichen, vertrauenswürdigen Mann, von dem uns nichts Böses droht.«
Philip runzelte erneut die Stirn. »Hm«, stieß er hervor. »Leider gibt es diese Geschichten. Ein Mann bar jeder Lebensfreude, der peinlich genau auf die Einhaltung des Glaubens achtet. Was glaubst du, Lena? Will er uns prüfen? Durchschauen, ob wir ihm etwas vorspielen, wenn wir allzu schnell von unserer unerbittlichen Auffassung ablassen?«
»Das wäre möglich«, gab Antonias Mutter zu. »Es gibt nur eine Möglichkeit, seine Absichten zu durchschauen. Tritt ihm weiter streng und unnachgiebig entgegen. Es könnte auch nichts schaden, wenn du bei manchen Auslegungen, die dir zu weltlich vorkommen, von Häresie sprichst.«
Lena lächelte ihren Mann liebevoll, doch voller Verschmitztheit an.
»Du möchtest also einen gestrengen Gatten haben?«
»Ja. Einen gestrengen Gatten, den ich nur manchmal mit der mir eigenen weiblichen Sanftmut bezähmen kann.«
Philip lachte laut. »Das lässt sich einrichten.«
»Dann brechen wohl harte Zeiten an«, meinte Alexander, doch in seinen Augen leuchtete der gleiche Schalk wie in denen seiner Mutter.
»Stimmt, ein gestrengerer Vater sollte ich wohl auch sein. Also, was sitzt ihr noch herum? Begebt euch zur Nachtruhe, damit wir morgen in aller Frühe Gott lobpreisen können.«
Seine Worte gingen in allgemeinem Gelächter unter.
22. Kapitel
S eit die Ägypter aufgetaucht waren, schlief Stephan schlecht. Die alten Bilder kehrten zurück, längst überwundene Gefühle und die alles erdrückende Trauer um seinen Bruder. Und die Erinnerung an Bespina … zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er wieder an sie gedacht. An sie und ihren kleinen Sohn Zeki, eine vaterlose Waise ohne Zukunft. Zeki war fünf gewesen, als er ihn kennenlernte, sieben, a ls sich ihre Wege trennten. Ein kluges Kind, das sich voller Zuneigung an ihn geklammert und in ihm den Vater gesucht hatte. Verständlich, schließlich hatte er selbst bei Zekis Mutter einen Teil der Geborgenheit gesucht und gefunden, die das gewöhnliche Leben ausmachte. In den erbärmlichen und entwürdigenden Umständen seines Sklavendaseins hatte es tatsächlich noch ein Lachen gegeben. Aber damals lebte Thomas noch.
Stephan atmete tief durch. Es hatte keinen Sinn – heute Nacht würde er keinen Schlaf mehr finden. Er richtete sich auf, setzte sich auf die Kante seines Betts und entzündete das Öllämpchen. Sein Blick fiel auf das Wandbord, dann auf den kleinen Beutel aus bunten Lumpen, den Bespina genäht hatte. Darin verwahrte er einen Schatz, der ihm mehr als alles Gold der Welt galt. Er nahm den Beutel in die Hand, öffnete ihn und schüttete den Inhalt behutsam aufs Bett. Zweiunddreißig handgeschnitzte Schachfiguren. Thomas hatte sie gefertigt. Jeden Tag ein Teil, gefertigt aus den Abfällen der Zimmerleute. Sein Bruder war geschickt gewesen. Geschickt und voller Zuversicht, ganz gleich, welche Widrigkeiten das Schicksal für sie bereitgehalten hatte.
Stephan berührte die Figuren, als könne er dem Geist seines Bruders dadurch näherkommen. Aber Thomas war tot. Außer der Erinnerung an ihn war nichts geblieben. Die Erinnerung an den Traum großer Heldentaten. Die Erinnerung an den Triumph, für besondere Tapferkeit zum Ritter geschlagen worden zu sein. Die Erinnerung an die Niederlage bei Kairo. Die Erinnerung an Gefangenschaft, Verrat und Sklaverei. Dennoch hatte er sich selbst mit dem Halseisen zuversichtlicher gefühlt als derzeit. Damals war sein Ziel die Freiheit gewesen. Inzwischen war er frei, aber all seine Träume und Hoffnungen hatten sich aufgelöst. Was konnte er vom Leben noch erwarten? Wenn er Glück hatte, würde er
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