Die Tochter der Tibeterin
die ganz junge, frisch verliebte Mädchen betraf.
»Jetzt, Kunsang, siehst du aus wie eine Kirsche, die zu reifen anfängt!«
Sie drehte ruckartig das Gesicht von mir weg. Ich biss mir auf die Lippen; in ihrem Alter ist man empfindlich. Versöhnlich legte ich die Hand auf ihre schmale, zuckende Schulter.
»Vielleicht können wir ihn später mal besuchen.«
Sie flüsterte, kaum hörbar.
»Ich werde nie wieder glücklich sein, wenn er mich verlässt.«
»Er will, dass du in Europa erzogen wirst und bei deiner Familie lebst«, sagte ich mit Nachdruck.
Sie verbarg hartnäckig ihr Gesicht.
»Das ist nicht wahr. Das hat er nie gesagt!«
Wenn später einmal für mich die Zeit gekommen sein würde, mein Gedächtnis zu befragen, wann alles begonnen hatte, dann denke ich, ja, es war hier. Was genau sah Kunsang in ihren Träumen? Gerade in dieser Zeit hatte sie ihre erste Monatsblutung gehabt.
»Du bist jetzt eine Frau«, hatte die nepalesische Krankenschwester gesagt, die ihr die ersten Binden besorgte. Es war keine Information, sondern ein Standpunkt, und er klang mahnend.
Kunsang erfuhr, dass vor noch nicht allzu langer Zeit nepalesische Mädchen für Wochen in ein dunkles Zimmer eingesperrt worden waren. Sie kam ziemlich verstört zu mir.
»Aber ich will doch reiten!«
»Natürlich kannst du reiten.«
»Und Onkel Atan? Darf ich ihn nicht mehr sehen?«
»Wer hat dir das gesagt? Natara?«
Sie nickte mit versteinerter Miene. Ich kochte vor Wut und sagte Natara meine Meinung. Nur weil Kunsang ihre Menstruation hatte, sollte sie ihr Leben von einem Tag zum anderen ändern? In welchem Jahrhundert lebten wir eigentlich? Am Abend sagte Karma zu mir:
»Du hast Natara beleidigt.«
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»Rückständigkeit ertrage ich nicht!«
»Da hast du schon recht«, meinte Karma, »aber du nimmst es viel zu persönlich. Sie wollte nur nett zu Kunsang sein. Und du kannst die Welt nicht ändern.«
»Ich bin keine tolerante Natur.«
»Nein, gewiss nicht.«
Karma sah mich an. Sie sah mich dauernd an. Ich hatte es satt.
»Ich glaube, ich gehe in die Schweiz zurück. Du warst eine gute Lehrerin. Ich will das jetzt anwenden.«
»Selbstbeherrschung habe ich dir vergebens gepredigt.«
»Tut mir Leid, es gibt Dinge, die mir nicht liegen.«
Ihre Augen blickten warm und verstehend, mit ein wenig Spott.
»Nun pass mal auf. Du musst nicht glauben, dass ich nicht weiß, wie es in dir aussieht.«
»Ich weiß, dass du es weißt«, sagte ich bitter.
Wir sprachen nicht mehr von Zeichen, Omen, Vorbedeutungen und Träumen. Alle Dinge, die wir vorhergesehen hatten, waren längst eingetreten. Es war, als hätten wir kein Gedächtnis mehr, keine Erinnerung, die uns warnte, dass die Sterne sich weiterdrehten.
»Wir alle haben irgendwann schon um uns selbst geweint«, sagte Karma. »Aber es ist besser, du hörst damit auf. Wann geht er?«
Ich bewegte mühsam die trockenen Lippen.
»Bevor der erste Schneefall einsetzt.«
»Das kann jeden Tag sein.«
Ich nickte wortlos.
»Ich habe Nachtdienst«, sagte Karma. »Und Kunsang kann bei Natara übernachten.«
Es gibt Entscheidungen, die machen frei. Ich wartete gelassen auf ihn. Eine große Ruhe war jetzt in mir, als säße ich still unter einem Baum, nachdem mir plötzlich eine Erkenntnis zuteil geworden war.
Es war spät, als er kam.
»Tee?«, fragte ich.
Er nickte und setzte sich, wobei er seinen Fellmantel um die Taille rollte. Die Abende waren schon sehr kalt. Ich wandte ihm lange den Rücken zu, während ich den Tee eingoss. Dann setzte ich mich zu ihm.
»Was sagen die Leute von mir?«, fragte er.
Ich trank einen Schluck Tee.
»Du bist ein Mann, der ihnen Angst einjagt.«
Er ließ sein leises, raues Lachen hören.
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»Ja, ich weiß, sie zeigen mit den Fingern auf mich.«
»Sie wundern sich, dass ich Kunsang zu dir lasse.«
»Ich bin ein Khampa, ein rotes Tuch für zimperliche Tugendwächter. Jeder fragt sich, was treibt der da, allein, mit dem Mädchen?«
»Ja, was treibst du mit ihr?«, fragte ich, keineswegs beunruhigt, eher belustigt.
»Ich liebe Kunsang.«
Mein Lächeln erlosch. Die gleichen Worte, dachte ich. Sein Gesicht war dunkelrot geworden, sein Atem war hörbar. Mir kam es vor, als suche er etwas, das ich nicht sehen konnte, etwas, das ihn mit Unruhe und Besorgnis, ja nahezu mit Furcht erfüllte.
»Was willst du damit sagen, Atan?«
»Sie ist die Tochter, die ich nie hatte. Ich habe – wie du weißt –
nur Söhne. Mit Söhnen kann ich nicht viel anfangen. Und
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